Übung 5
Sammeln Sie Vor- und Nachteile des Einholens eines standardisierten Ethikvotums nach US-amerikanischen Vorbild (IRB). Welche Prozesse werden durch dieses Votum gesichert/begünstigt? Wo könnten sich aus ethischer Perspektive Probleme ergeben?
Diskussion:
Das Institutional Review Board (IRB) ist ein Ethikkomitee in den USA, das für die Überprüfung von Forschungsvorhaben in den humanwissenschaftlichen Fächern (Soziologie, Psychologie und Sozial- und Kulturanthropologie) zuständig ist. Anhand standardisierter Verfahren wie einer Nutzen-Risiko-Analyse, entscheidet das geschulte Komitee, ob das jeweilige Forschungsvorhaben moralischen, ethischen und institutionellen Richtlinien entspricht und durchgeführt werden darf. Für Forschungen, in die Menschen involviert sind (was in der ethnografischen Feldforschung der Fall ist), bietet das IRB also einen standardisierten Schutz, in dem die Personenrechte und das Wohlergehen der Beteiligten im Zentrum stehen.
In den USA ist es für Wissenschaftler*innen Pflicht, sich beim zuständigen IRB ein positives Votum einzuholen, bevor eine Forschung vonstattengehen kann. Ohne entsprechendes Votum erhalten sie in der Regel weder eine finanzielle Unterstützung noch eine Forschungserlaubnis vor Ort. In Deutschland hingegen befindet sich die verpflichtende Vergabe von Genehmigungen von Ethikkommissionen in den Humanwissenschaften (noch) in einer fachlichen Diskussion.
Besonders in der sozial- und kulturanthropologischen Forschung können sich durch für zahlreiche Fächer vereinheitlichte Ethikrichtlinien einige Probleme ergeben, denn oft verfügen die meist interdisziplinär aufgestellten Mitglieder einer Ethikkommission nicht über ausreichend methodisches, ethnografisches Fachwissen: So können mitunter die Schnittstellen der teilnehmenden Beobachtung, des Einholens der informierten Einwilligung und des gleichzeitigen, reziproken Vertrauensaufbaus beim Datengewinn im Feld nicht hinreichend abgeschätzt werden. Durch die standardisierte und abgesteckte Genehmigung für den Umgang mit Forschungsteilnehmenden geht oftmals die Flexibilität verloren, die es im Feld in vielen Fällen bei Unvorhersehbarkeiten braucht, um „tiefe“ Forschungserkenntnisse zu erlangen. Standardisierte Entscheidungen über Themen, Methoden und Inhalte einer Forschung erweisen sich somit oftmals als „inadäquat“ (Dilger, 2015, pp. 2).
Ferner fechten einige Wissenschaftler*innen die ethnozentrischen Tendenzen eines standardisierten Ethikvotums an, die gerade in Forschungsfeldern mit einem ungleichen Machtgefälle zwischen Forschenden und Teilnehmenden sichtbar werden: So kritisiert Bourgois (1990) beispielsweise den apolitischen Charakter von Ethikkommissionen, der jede Art von aktivistischen Handlungen (im Sinne einer „Engaged-“ oder „Public Anthropology“) im Feld hemmt:
„Most dramatically, the ethic of informed consent as it is interpreted by human subject review boards at North American universities implicitly reinforces the political status quo. Understood in a real world context, the entire logic of anthropology´s ethics is premised on a highly political assertion that unequal power relations are not particularly relevant to our research.”
(Bourgois,1990, p. 51)
Der Medizinanthropologe Hansjörg Dilger (2015) problematisiert im medizinanthropologischen Kontext die euro-amerikanische Perspektive von Ethikkommissionen auf Krankheit/Gesundheit, die oftmals in Dissonanz zu lokalen, soziokulturellen Verständnissen steht und damit eine Eingrenzung des Untersuchungsfeldes schwierig macht:
„Is it ethically appropriate to discuss sensitive information surrounding witchcraft accusations and/or the personal transgressions involved in illness etiologies associated with the breaking of taboos, when we had assured people that we are interested in their health seeking practices related to (a biomedical or public health definition of), for example, HIV/AIDS? […] Do we engage in acts of in-transparency and veiling as we trick people into talking about potentially different issues and (often much broader) definitions of health, well-being, and medicine than originally articulated in IRB protocols or informed consent forms?”
(Dilger, 2015, p. 6)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Grundideen von Ethikkommissionen (Schutz und Wohlergehen von beteiligten Personen und Überprüfung von Forschungsvorhaben) zwar zu begrüßen sind, doch auch Grenzen und Problembereiche aufweisen. Jede forschende Person solle im Rahmen einer sozialen und moralischen Verantwortlichkeit arbeiten.
Literatur und Quellenangaben
Bourgois, P. (1990). Confronting Anthropological Ethics: Ethnographic Lessons from Central America. Journal of Peace Research, 27(1), 43-54. https://www.jstor.org/stable/423774
Dilger, H. (2017). Ethics, Epistemology and Ethnography: The Need for an Anthropological Debate on Ethical Review Processes in Germany. Sociologus, 67 (2), 191–208. https://doi.org/10.3790/soc.67.2.191