Forschungsethik und Datenethik
Definition
Forschungsethik in der Ethnografie umfasst eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Intention in Bezug auf mögliche Konsequenzen der empirischen Forschung und späteren Publikation sowie Datendokumentation für die Teilnehmenden. Datenethik als Teil der Forschungsethik bildet den verantwortungsvollen Umgang mit Forschungsdaten innerhalb aller Phasen und Prozesse des Forschungsdatenmanagements. Stets sollte sich bei beiden ethischen Auseinandersetzungen an der Frage orientiert werden: Kann ich mit meiner Forschung und ihren Resultaten involvierten Personen Schaden zufügen?
Einführung
Historischer Ursprung
Seit den 1980er Jahren lässt sich in den sozial- und kulturanthropologischen Fachverbänden und Arbeitsgruppen eine zunehmende Formalisierung und Standardisierung ethischer Anforderungen feststellen. In entsprechenden Ethikerklärungen wird die Rolle von Forscher*innen in Bezug auf ihre Verantwortung und Selbstverpflichtung zusammengefasst. In den USA wurden erste „Codes of Ethics und Institutional Review Boards“ (IRB) als Reaktion auf menschenunwürdige Experimente und Forschungen im medizinischen und psychologischen Bereich (z. B. während des zweiten Weltkrieges oder der Nachkriegszeit) entwickelt. Ethische Grundannahmen aus diesen Disziplinen wurden auf sozialwissenschaftliche Forschungen übertragen (Dilger, 2020, pp. 286). In Deutschland entstanden ab den 2000er Jahren ethische Leitlinien für die ethnografischen Fächer: So erließ die Gemeinschaft für Medizinanthropologie im Jahre 2005 Leitlinien zur ethischen Selbstreflexion1 siehe: https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007/978-3-662-58685-3_70-1, 2007 etablierte der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) ethische Grundprinzipien2 siehe: https://www.konsortswd.de/wp-content/uploads/RatSWD_Output9_Forschungsethik.pdf und 2009 wurde die „Frankfurter Erklärung zur Ethik in der Ethnologie“ verabschiedet3 siehe: https://www.dgska.de/wp-content/uploads/2016/07/DGV-Ethikerklaerung.pdf. Aus diesen Leitlinien lassen sich folgende Grundprinzipien herleiten.
Grundprinzipien der Forschungsethik
- Die wissenschaftliche Güte und Integrität der Forschenden: Hier geht es darum, dass sich Forschende an rechtlich vorgegebene Maßnahmen einer guten wissenschaftlichen PraxisDie gute wissenschaftliche Praxis (GWP) bildet einen standardisierten Kodex, der als Regelwerk in den Leitlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verankert ist. Die Leitlinien verweisen auf die ethische Verpflichtung jedes/jeder Forschenden, verantwortungsvoll, ehrlich und respektvoll vorzugehen, auch um das allgemeine Vertrauen in Forschung und Wissenschaft zu stärken. Sie können als Orientierung im Rahmen wissenschaftlicher Arbeitsprozesse geltend gemacht werden. Weiterlesen halten sollen: Es gilt, einen Genauigkeits- und Neutralitätsanspruch (z. B. in Bezug auf politische Vorannahmen oder Beeinflussungen) zu bewahren, Plagiate und Täuschungen zu vermeiden und Erkenntnisse anhand einer detaillierten Dokumentation nachvollziehbar und verständlich zu gestalten.
- Die Nichtschädigung (das Vermeiden von Schaden) bedeutet, dass Forschende die Forschungsteilnehmenden und sich selbst gleichermaßen schützen sollten. Keine*r der Beteiligten sollte rechtliche, gesundheitliche, materielle, soziale etc. Schäden von der Forschung davontragen. Dazu gehören eine bewusste Feinfühligkeit für sensible Themen und entsprechende Anonymisierungs- und Pseudonymisierungsstrategien zum Schutz persönlicher DatenPersonenbezogene Daten sind: 'alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (betroffene Person) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser Person sind, identifiziert werden kann;...' (EU-DSGVO Artikel 4 Nr. 1, 2016; BDSG §46 Abs. 1, 2018; BlnDSG §31, 2020). Weiterlesen (vgl. Artikel Anonymisierung und Pseudonymisierung). Forschende sollten aber auch ihre eigenen psychischen und gesundheitlichen Grenzen sowie die ihrer Mitarbeiter*innen im Blick halten, was insbesondere bei Forschungen zum Thema Gewalt oder in Krisengebieten relevant wird.
- Die selbstbestimmte, freiwillige Teilnahme einer Forschung anhand einer informierten EinwilligungInformierte Einwilligung (informed consent) meint die Zustimmung der Forschungsteilnehmenden zur Teilnahme an einem Forschungsvorhaben auf der Basis umfangreicher und verständlicher Informationen. Die Ausgestaltung einer informierten Einwilligung muss dabei sowohl ethische Grundsätze als auch datenschutzrechtliche Anforderungen adressieren. Weiterlesen erfordert, dass Teilnehmende über die Ziele der Forschung informiert werden und diese antizipierend verstehen können. Daraufhin können sie der Teilnehme aus freiem Willen zustimmen oder nicht (vgl. Artikel informierte Einwilligung).
Diese ethischen Grundprinzipien befinden sich einerseits an der Schnittstelle zwischen rechtlich verbindlichen Aspekten (die im Falle einer Nichtachtung zu Konsequenzen führen können) und andererseits einer wissenschaftlich-ethischen Logik. Auch gelten sie über die unmittelbare Forschungssituation hinaus und umfassen sämtliche Phasen des ForschungsdatenlebenszyklusDas Modell des Forschungsdatenlebenszyklus stellt sämtliche Phasen dar, die Forschungsdaten vom Zeitpunkt der Erhebung bis zu ihrer Nachnutzung durchlaufen können. Die Phasen sind an bestimmte Aufgaben gekoppelt und können variieren (Forschungsdaten.info, 2023). Allgemein umfasst der Forschungsdatenlebenszyklus folgende Teilbereiche: Weiterlesen wie die Dokumentation, Archivierung, Nachnutzung, etc.
Datenethik im Forschungsdatenmanagement
Eine ethische Grundhaltung ist in jeder der Phasen des Forschungsdatenlebenszyklus' für ein erfolgreiches Datenmanagement unabdingbar und lässt sich anhand des Begriffs der Datenethik zusammenfassen. Das Open Data Institute definiert Datenethik wie folgt:
„A branch of ethics that evaluates data practices with the potential to adversely impact on people and society – in data collection, sharing and use.”
(Open Data Institute, 2023)
Es gilt also kritisch zu bedenken, inwiefern der eigene Umgang mit generierten Daten im ForschungsdatenmanagementBeim Forschungsdatenmanagement geht es um einen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang mit Forschungsdaten. Anhand spezifischer Maßnahmen und Strategien sollen Forschungsdaten sorgfältig organisiert, gepflegt und aufgearbeitet werden. Ziel ist es, sie im Sinne einer guten wissenschaftlichen Praxis langfristig zu speichern und für Dritte zugänglich und nachnutzbar zu machen. Somit soll eine Überprüfung wissenschaftlicher Aussagen vereinfacht, Nachweise gesichert und weitere Auswertungen und Analysen an den Daten vollzogen werden können. Weiterlesen Effekte auf involvierte Personen haben kann. Datenpraktiken (also das Generieren von Daten, die Analyse, Auswertung, der Erkenntnisgewinn und die Entscheidung und Auswahl über das Teilen von Daten und einer möglichen Nachnutzung für Dritte) sollten immer so ausgeübt werden, dass keinen Beteiligten Schaden zugefügt wird oder negative Konsequenzen entstehen. Bei jeder Entscheidung innerhalb dieser Praktiken, sollten also mögliche Auswirkungen auf Beteiligte mitbedacht werden, worauf in verschiedenen Artikeln dieses Portals verwiesen wird (vgl. auch Artikel Archivierung, Nachnutzung).
Die FAIR-PrinzipienDie FAIR-Prinzipien wurden 2016 erstmals von der FORCE 11-Community (The Future of Research Communication and e-Scholarship) entwickelt. FORCE11 ist eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern, Bibliothekaren, Archivaren, Verlegern und Forschungsförderern, die durch den effektiven Einsatz von Informationstechnologie einen Wandel in der modernen wissenschaftlichen Kommunikation herbeiführen und so eine verbesserte Wissenserstellung und -weitergabe unterstützen will. Das primäre Ziel liegt in der transparenten und offenen Darlegung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse. Demnach sollten Daten online findable (auffindbar), accessible (zugänglich), interoperable (kompatibel) und reusable (wiederverwendbar) abgelegt und strukturiert sein. Ziel ist es, Daten langfristig aufzubewahren und im Sinne der Open Science und des Data Sharing für eine Nachnutzung durch Dritte bereitzustellen. Genaue Definitionen der FORCE11 selbst können auf der Website nachgelesen werden siehe: https://force11.org/info/the-fair-data-principles/. Die FAIR-Prinzipien berücksichtigen ethische Aspekte der Weitergabe von Daten in sozialwissenschaftlichen Kontexten nicht hinreichend, weshalb sie um die CARE-Prinzipien ergänzt wurden. Weiterlesen, die als Antwort auf Open DataOpen Data (offene Daten) sind Daten, die offen und frei online zugänglich sind sowie uneingeschränkt von Dritten weiterverwendet werden dürfen. Dies setzt voraus, dass sie mit einer offenen Lizenz versehen sind (Opendefinition, 2023). Weiterlesen (also einem gänzlich freien Zugang zu allen Daten) etabliert wurden, erkennen bestimmte Einschränkungen des Datenzugangs zwar an, um Personen rechtlich zu schützen (vgl. Artikel Einführung in das FDM, Daten in der ethnografischen Forschung, Datenschutz, Rechte und Lizenzen). Dennoch berücksichtigen sie als zentrales Hilfswerkzeug des Forschungsdatenmanagements ethische Aspekte des Datengenerierungsprozesses nicht hinreichend (Imeri & Rizzolli, 2022). Aus diesem Grund etablierte die Global Indigenous Data Alliance (GIDA)Die Global Indigenous Data Allaince (GIDA) ist ein Netzwerk von Forschenden, Datenpraktiker*innen und politischen Aktivist*innen, die sich dafür einsetzen, dass indigene Gruppen Weiterlesen im Jahre 2019 die CARE-Prinzipien, die als Komplement zu den FAIR-Prinzipien fungieren und historisch bedingte (z. B. postkoloniale) Forschungskontexte und damit einhergehende Machtasymmetrien zwischen Forschenden und Teilnehmenden innerhalb des Datenmanagements stärker fokussieren. Das Akronym CARE steht für:
- C - Collective Benefit (eine Nachnutzung und Einsicht der erhobenen Daten für involvierte Forschungsteilnehmende soll möglich sein, z. B. in Online-Repositorien)
- A - Authority to Control (die Kontrolle über die Repräsentation, die durch die betreffende Community selbst mitgestaltet werden soll)
- R - Responsibility (die Verantwortung der Forschenden, respektvolle Beziehungen zu den Teilnehmenden zu etablieren und zu bewahren)
- E - Ethics (die Berücksichtigung ethischer Aspekte bei Forschungen, es soll Schaden vermieden, Rechte und Interessen eingehalten und die Beteiligung der Community selbst gefördert werden)
Die Grundprinzipien der Forschungsethik, der Datenethik und der CARE-Prinzipien geben eine Orientierung und Unterstützung für ethische Fragestellungen und können als Hilfswerkzeuge für ethnografische Forschungen und den Umgang mit Daten genutzt werden. In der Sozial- und Kulturanthropologie sind diese ethischen Reflexionen allerdings ohnehin innerhalb von Fachdebatten und Theorien etabliert.
Forschungsethik in der Sozial- und Kulturanthropologie
Ethische Reflexionen sind in der Sozial- und Kulturanthropologie fest verankert, was sich an den Fachdebatten um die „Krise der Repräsentation“ (sog. „Writing-Culture“-Debatte) und die Positionalität des/der Ethnogaf*in sowie postkoloniale Theorieansätze ablesen lässt (Dilger, 2020, pp. 292). So ist die ethnografische Forschung an sich reziprok, partizipativ und kollaborativ und hinsichtlich des Forschungsdesigns offen und flexibel ausgerichtet. Der Aufbau von nahen, vertrauten und respektvollen Beziehungen zu Forschungsteilnehmenden bildet Teil der Methodik des Faches und ist entsprechend in die Lehre inkludiert (ebd.). Auch der respektvolle und nachsichtige Umgang mit Forschungsdaten sollte innerhalb dieser Fächertradition verortet und etabliert werden.
Motivation
Zum einen zählt die Einhaltung ethischer Regeln und Anforderungen zur guten wissenschaftlichen Praxis, deren Missachtung rechtliche Konsequenzen haben kann. Zum anderen sind Leitlinien der ethischen Verantwortbarkeit mitunter an die Menschenrechtsgrundverordnungen geknüpft. Außerdem müssen für Forschungen in einigen Ländern (z. B. den USA, Großbritannien und Australien) positive Gutachten bezüglich Ethikstandards eingeholt werden. Checklisten, Tool-Boxen und Reflexionsbögen können dafür als ethische Selbstüberprüfung dienen.
Methoden
- In einem ersten Schritt sollten Sie sich über die Grundlagen der guten wissenschaftlichen Praxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) informieren und diese mit Ihrem eigenen Forschungsvorhaben abgleichen. Die Leitlinien der DFG sind hier zusammengefasst: Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis - Kodex
- Danach gilt es, sich über Zuständigkeiten der jeweiligen Ethikkommission des eigenen Fachbereichs, der Hochschule und des Ortes zu erkundigen. Eine Übersicht für Ethikkommissionen sozialwissenschaftlicher Fächer finden Sie beispielsweise hier: https://www.konsortswd.de/themen/forschungsethik/ethikkommissionen/
Die Mitglieder und Kontaktpersonen des zentralen Ethikausschusses der FU Berlin sind auf dieser Seite in einer Liste abrufbar: https://www.fu-berlin.de/forschung/service/ethik/ - Handelt es sich um eine ethnografische Forschung im Fach Ethnologie/Sozial- und Kulturanthropologie, können die Grundlagen der ethischen Begutachtung für diese hier eingesehen werden: https://www.dgska.de/wp-content/uploads/2020/02/DGSKA_Ethik-Leitlinie.pdf
- Die DGSKA (Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie) stellt einen Forschungsreflexionsfragebogen zur Verfügung. Dieser kann ausgefüllt und in Absprache mit der jeweiligen Betreuung bei der zuständigen Ethikkommission eingereicht werden: https://www.dgska.de/wp-content/uploads/2020/03/DGSKA_Ethik-Reflexionsfragebogen.pdf
- Lehr- und Übungsmaterial für die forschungsethische Selbstprüfung kann auf der Website des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten frei heruntergeladen werden. Die Selbstprüfung befindet sich unter den Lehrfolien ab Folie 41: https://www.konsortswd.de/aktuelles/publikation/forschungsethik%20in%20den%20sozial%20und%20wirtschaftswissenschaften/
- Eine weitere Checkliste für die Selbstbeurteilung von Studien auf ethische Unbedenklichkeit befindet sich hier: https://www.fu-berlin.de/forschung/service/ethik/_media/2022_checkliste.pdf
Trotz dieser Leitlinien, Regeln und Checklisten kann es in ethnografischen Forschungssituationen zu ethischen Problemen kommen, für die es keine idealen und eindeutigen Lösungen gibt und die es individuell-situativ ein- und abzuschätzen gilt (Dilger, 2020, p. 284).
Anwendungsbeispiele
Bei folgenden Forschungssituationen handelt es sich um Erlebnisse des Ethnologen Hansjörg Dilger bei Forschungen in Tansania (2009/2010 und 1999/2000).
Beispiel 1.
„Das erste Beispiel betrifft meine Forschung in einer Primarschule in Dar es Salaam (2009–10). Diese war von der Pastorin einer großen Pfingstkirche Mitte der 1990er Jahre etabliert worden und ist unter der urbanen Mittelschicht aufgrund ihres Versprechens von schulischem Erfolg und „moralischer Erziehung“ bis heute stark nachgefragt. Im Forschungsprozess stellte sich u. a. heraus, dass an der Schule problematische Arbeitsbedingungen herrschten, insofern LehrerInnen keine Arbeitsverträge erhielten und sich nicht gewerkschaftlich organisieren durften, ohne eine Kündigung zu riskieren. Mir stellten sich folgende Fragen: Sollte ich über diese problematischen Erkenntnisse meiner Forschung schreiben und damit möglicherweise der Pastorin schaden, die mir den Zugang zum Alltag ihrer Schule sehr entgegenkommend verschafft hatte? Würde ich mit einer solchen Veröffentlichung nicht auch die LehrerInnen selbst gefährden, die diese Zustände zwar teils stark kritisierten, aber nach eigenen Angaben ohnehin bereits unter großem Druck standen? Sollte ich den Namen der Schule in späteren Publikationen nicht erwähnen, um nicht ausschließlich diese Einrichtung ins Licht der Kritik zu rücken? Schließlich war sie nicht die einzige Schule des Landes, die im Kontext neoliberaler Strukturreformen vergleichbare Probleme aufwies.“ (Dilger, 2020, p. 283).
Beispiel 2.
„Das zweite Beispiel stammt aus meiner Feldforschung zum Umgang mit Erkrankungen und dem Sterben an HIV/AIDS im Kontext von Land-Stadt-Migration in Tansania (1999–2000). Insbesondere im ländlichen Raum wurde ich dabei mit Situationen konfrontiert, in denen ich Kenntnis über eine mögliche Ansteckung Dritter durch HIV-infizierte Personen erhielt; hier stellte sich mir die Frage nach der eigenen ethischen Verantwortung in besonderer Weise. In einem Fall ging es um eine junge Frau, die nach wiederholten Erkrankungen im Krankenhaus HIV-positiv getestet worden war. Während das Gesundheitspersonal Teile ihrer Familie über das Ergebnis informiert hatte, wurde die Diagnose der jungen Frau selbst aus der Sorge heraus verheimlicht, dass sie damit zu stark emotional ‚belastet‘ würde. Nachdem die Frau schwanger wurde und ein – zumindest dem äußeren Anschein nach – gesundes Kind zur Welt brachte, bat sie mich um Unterstützung: Sie wollte im lokalen Krankenhaus einen HIV-Test erhalten, den ihr der zuständige Counsellor angeblich verweigert hatte. Es war offensichtlich, dass ich mit einem solchen Schritt gegen den Willen ihrer Familie handeln würde, die mir explizit gesagt hatte, dass ihre Angehörige nicht von ihrer HIV-Infektion erfahren solle. Doch ich fragte mich: Könnte die Frau durch das Wissen um ihre Diagnose nicht eine mögliche HIV-Infektion ihres Kindes verhindern, wenn sie dieses zeitnah abstillen würde? Könnte das Wissen um ihre HIV-Infektion nicht auch eine emotionale Erleichterung darstellen, da sie bezüglich des Grundes für ihre hartnäckigen Erkrankungen bis dahin im Ungewissen war?“ (ebd.).
Die Beispiele zeigen, dass standardisierte Verfahren ethischer Gutachten einerseits notwendig sind, um Teilnehmende institutionalisiert und rechtlich bindend zu schützen und menschenwürdig zu behandeln. Andererseits sind besonders ethnografische Forschungskontexte mitunter komplex und vielschichtig. Nicht immer können forschungsethische Fragen anhand ethischer Leitlinien und Vorgaben zufriedenstellend beantwortet werden.
Beispiel 3.
Ein Beispiel für den Einsatz der CARE-Prinzipien bildet die australische Nationalbibliothek, die auf ihrer Website auf den respektvollen Umgang mit sensiblen Inhalten und Materialien der Forschung mit australischen Aboriginals verweist:
Quelle: Startseite der The National Library of Australia, 2023, All rights reserved
Diskussion
Folgende Kritikpunkte der Forschungsethik und der zunehmenden Formalisierung und Standardisierung ethischer Maßnahmen durch Ethikkommissionen und erforderliche Begutachtungen lassen sich festhalten:
- Änderungen des Forschungsdesigns, das im offen-flexiblen ethnografischen Feld oftmals angepasst werden muss, müssen nochmals eine ethische Begutachtung durchlaufen, was in einem zeitlich und finanziell begrenzten Feldaufenthalt eine Herausforderung darstellt und zu institutionalisierten Überregulierungen führen kann.
- Einigen Ethikkommissionen fehlt die spezifische ethnografische Expertise, um eine unklare Feldsituation von außen zu beurteilen und über sie entscheiden zu können. Auch hat sich eine Risiko-Nutzen-Abwägungsprämisse etabliert, die im Kontrast zum partizipativen Ansatz ethnografischer Forschungen steht.
- Anonymisierungen oder Pseudonymisierungen sind in der Ethnografie aus verschiedenen Gründen bisweilen nicht möglich und bei dezidiert zu adressierenden Themen nicht immer sinnvoll (vgl. Artikel Anonymisierung und Pseudonymisierung)
- Mitunter kann bei informierten Einwilligungen im Vorhinein nicht eindeutig abgesehen werden, ob Forschungsteilnehmende sich tatsächlich sämtlicher Forschungsfolgen bewusst sind, was auch nicht unbedingt überprüfbar ist (vgl. Artikel informierte Einwilligung).
Daraus lässt sich schließen, dass die angelegten Leitlinien, Reflexionsfragebögen, sowie die CARE-Prinzipien für das Forschungsdatenmanagement Orientierung geben und unterstützend sein können. Jedoch haben sie nicht für jede im Feld aufkommende ethisch herausfordernde Situation passende Antworten parat und bilden teilweise unflexible Regulierungen. Da es sich bei der Sozial- und Kulturanthropologie um eine reflexive Wissenschaft handelt, haben forschende Anthropolog*innen per se die Selbstverpflichtung sich kontinuierlich (vor, während und nach dem Forschungsprozess, sowie im Verlauf des Forschungsdatenmanagements) mit ethischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Es gilt, eigenverantwortlich, in Absprache mit erfahrenen Mentor*innen, und situationsabhängig abzuwägen und dementsprechende Entscheidungen zu treffen. Die Datenethik ist dabei stets eng an die Forschungsethik gekoppelt und die kontinuierliche Selbstreflexion sollte auch über die Forschungssituation hinaus jeden Prozess des Forschungsdatenmanagements gleichermaßen betreffen.
Endnoten
Literatur und Quellenangaben
Dilger, H. (2020). Ethik und Reflexivität in der Feldforschung. In Beer, B. & König, A. Methoden ethnologischer Feldforschung (283-303). https://doi.org/10.5771/9783496030355
Imeri, S. & Rizzolli, M. (2022). CARE Principles for Indigenous Data Governance. o-bib. Das offene Bibliotheksjournal, 9 (2), 1-14. https://doi.org/10.5282/o-bib/5815
Open Data Institute. (2023). What is data ethics? https://theodi.org/article/the-data-ethics-canvas-2021/#1563365825519-a247d445-ab2d
Zitierweise
Heldt, C. & Röttger-Rössler, B. (2023). Forschungsethik und Datenethik. In Data Affairs. Datenmanagement in der ethnografischen Forschung. SFB 1171 & Center für Digitale Systeme, Freie Universität Berlin. https://data-affairs.affective-societies.de/artikel/forschungsethik-und-datenethik/