Anwendungsbeispiele: Online-Ethnografie
Folgende Beispiele aus der Praxis zeigen die enge Verschränkung zwischen analoger und digitaler Welt auch im Forschungsprozess.
Beispiel 1: Auszug aus einem Interview mit Max Kramer zu seinen Forschungen im Umfeld muslimischer Akteur*innen in Indien, 2023
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Quelle: Interviewauszug Röttger-Rössler mit Kramer zu Forschungen in Indien, 2023, lizenziert unter CC BY-NC-ND 4.0
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Birgitt Röttger-Rössler: Ich spreche mit dem Sozialanthropologen Dr. Max Kramer, der sich in seinen aktuellen Forschungen mit religiösen genauer mit muslimischen Minderheiten in Indien und ihren medialen Praktiken beschäftigt. Max, wenn ich das richtig verstanden habe, interessiert dich vor allem die taktische Nutzung digitaler Plattformen durch religiöse Minderheiten. D. h. du nimmst gezielt in den Blick, wie Erfahrungen, die Aktivist*innen in ihren analogen Lebenswelten machen, online repräsentiert werden. Kann man das so sagen?
Max Kramer: Ja, das kann man nicht direkt so sagen, also zum einen, weil diese Aktivist*innen keine analogen Lebenswelten mehr haben, sondern ihre Lebenswelt tief mediatisiert ist. D. h., dass in ihrer Alltagspraxis im Grunde keine sinnvolle Online-Offline-Trennung mehr da ist, sondern eher so’ne Art taktischer Nutzung verschiedener Affordanzen, die gewisse Möglichkeiten bieten und auch mit gewissen Gefahren einhergehen. Und Taktik verstehe ich als etwas, was aus dem langfristigen Lernen herauskommt. Dieses Lernen hat nicht nur etwas mit der Frage der Repräsentation zu tun. Also ich beschäftige mich vor allem mit, was man ethische Fragen nennen könnte zum Beispiel, wie man sich emotional auf ’ne Twitterpraxis einstellt, wie man manchmal lieber ein Gedicht schreibt als ’nen politischen Tweet mit Nachrichtenwert, wie man manchmal für Monate die Plattform verlässt, um den politischen Gegnern zu folgen und so’n bisschen was über das rassistische Ökosystem zu lernen, was es da in Indien gibt und was die Hindu-Nationalisten aufgebaut haben in den letzten 15 Jahren, wie man an sich selbst arbeitet, um zur richtigen Zeit mit den richtigen Emotionen auf der richtigen Plattform den richtigen Inhalt zu posten. Das sind so taktisches Raffinesse, die man da über teilweise einen ziemlich brutalen Lernprozess sich aneignet. Weil sonst kann es nämlich passieren, dass man ‚geframed‘ wird, oder dass man zur Inszenierung von moralischer Empörung durch den politischen Gegner herhalten muss. Also meine Gesprächspartner*innen überlegen sich halt, was sie machen können, damit sowas nicht passiert.
Birgitt Röttger-Rössler: Wenn ich da mal kurz eingreifen also reinfragen darf, das ist sehr interessant finde ich, was du da erzählst, weil (du) ganz überzeugend dargelegt hast, dass eben diese Trennung zwischen Online und offline, virtueller oder digitaler und analoger Welt ja eigentlich so gar nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Eben dass all die medialen und digitalisierten Praktiken unseren Alltag bestimmen und diese Trennung eigentlich dann schon eine künstliche ist. Das fordert ja natürlich auch die sozialanthropologische Forschung heraus, wir müssen ja damit umgehen. Also, wie machst du das? Du hast mir zum Beispiel erzählt, in unseren Vorgesprächen, dass du eben den tonangebenden politischen Aktivist*innen also denen mit sehr viel Einfluss mit großen Twitterhandles, oder Xhandles wie es jetzt heißen müsste, zunächst immer online gefolgt bist und verfolgt hast, was die machen, wie sie sich repräsentieren, mit wem sie interagieren, auf wen sie reagieren usw. und dann aber versucht hast natürlich auch über deine vielen Kontakte mit diesen Personen in Kontakt zu kommen. Und ja, wie hast du einmal da dann deine Onlinerecherche dokumentiert und gespeichert, das interessiert mich, und auch diese Verschränkung, wie dokumentierst du diese Verschränkung, von der du gerade gesprochen hast, von analoger und digitaler Welt?
Max Kramer: Es ist eher so eine kreisende Bewegung, ich habe bereits aus früherer Forschung Netzwerke gehabt in Dehli und in Bombay und ich musste wegen dieser Akteure lesen und retweeten, und das waren meistens Leute, die relativ große Handles haben. Damit meine ich mehr als 50.000 Follower oft auch bis zu 150.000 Follower, vielleicht könnte man sagen Twitter-Microstar-Personas. Denen bin ich dann erst einmal allen gefolgt. Das sind nicht so viele auf Indien verteilt, die so’ne Größe an Follower zusammenbringen. Und ich habe dann versucht so schnell wie möglich, diese Leute persönlich zu treffen. Also meine hauptsächlichen Daten sind also Gespräche über die Praxis. Was mich interessiert ist, was den Akteuren wichtig ist. Was ist für sie in ihrer Praxis wichtig, was für Probleme haben sie, wenn sie auf sozialen Netzwerken unterwegs sind und wie lernen sie, mit diesen Problemen umzugehen, sie zu vermeiden, neue taktische Zugänge zu entwickeln usw. Vor dem ersten Treffen mit Aktivisten habe ich mir normalerweise die letzten Monate ihrer Tweets angeschaut und dann gelegentlich Screenshots gemacht, wenn ich dachte, das ist ein Tweet, der viel geteilt wurde, der stark problematisiert wurde, der vielleicht auch dazu geführt hat, dass ein Gerichtsverfahren gegen diese Akteure gestartet wurde usw. das sind dann Tweets, von denen ich Screenshots gemacht habe und die ich dann ins erste Gespräch genommen habe. Mir ist dann aber auch bald aufgefallen, dass die Screenshots, die ich gemacht habe im Vorfeld, dass das für die Akteure nicht unbedingt besonders wichtige Tweets waren. Also das für ihre eigene Erinnerung an ihre Twittergeschichte diese Tweets eher nebensächlich waren, aber ganz andere Tweets viel bedeutender waren. Dann habe ich mich dann mit diesen Tweets auseinandergesetzt, Screenshots von denen gemacht und die in Ordner gespeichert und diese Ordner verschlüsselt und auf einer sicheren Festplatte in einer verschlüsselten Form verwahrt dann. Das mache ich mit allen Daten, die ich sammle.
Beispiel 2: Auszug aus einem Interview mit Jürgen Schaflechner zu seinen Forschungen im Umfeld muslimischer Akteur*innen in Pakistan, 2023
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Quelle: Auszug 1 aus einem Interview von Röttger-Rössler mit Schaflechner zu Forschungen in Pakistan, 2023, lizenziert unter CC BY-NC-ND 4.0
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Birgitt Röttger-Rössler: Ich spreche mit dem Sozialanthropologen Dr. Jürgen Schaflechner, der das von der VW-Stiftung geförderte Forschungsprojekt „The Populism of the Precarious“ leitet, das sich mit der Frage beschäftigt, wie sich diskriminierte, religiöse Gemeinschaften in Indien und Pakistan, vermittels sozialer Medien als politische Akteure positionieren. Jürgen Schaflechner sitzt mir virtuell gegenüber, da er sich gerade auf Feldforschung in Pakistan befindet.
Jürgen, Danke, dass du dir trotzdem Zeit für unser Gespräch nimmst. Kannst du mir als Erstes einmal ganz kurz dein Forschungsthema näher umschreiben?
Jürgen Schaflechner: Ja, herzlichen Dank für dieses Gespräch. Das Projekt „The Populism of the Precarious“ beschäftigt sich mit der Frage, was sich mit dem Aufkommen der sozialen Medien in den letzten 10 Jahren für Minderheiten, im Besonderen für religiöse Minderheiten in Südasien verändert hat. D. h. ein Teil des Projektes beschäftigt sich mit muslimischen Minderheiten in Indien, ein anderer Teil, in dem ich jetzt mehr involviert bin, beschäftigt sich mit der Frage der nicht-muslimischen Gruppierungen in Pakistan, sprich Hindus, Christen, Juden usw. Und über die letzten Jahre hat sich hier immer mehr und mehr die Frage ergeben, was passiert denn eigentlich, wenn der Mittelmann oder die Institution, die früher zwischen den religiösen Minderheiten in Pakistan oder in Indien „on the ground“ sozusagen vermittelt hat, wenn dieser Mittelmann wegfällt. Wenn man sich sozusagen in dem Raum befindet, wo man sich selbst inszenieren kann. Und das Interessante, was wir hier gefunden haben, ist dass es sich hier sehr schnell zu einer ganz neuen Systematik der Sichtbarkeit hin entwickelt, wo Akteure mit sehr klugen Mitteln sich selbst inszenieren. Und zwar auf eine Art und Weise selbst inszenieren, die kokettiert mit einem meistens westlichen oder mit einem Blick aus dem globalen Norden versucht, ein bestimmtes Bild zu repräsentieren, wo Opferschaft, wo Verfolgung dargestellt wird, übersetzt wird, so dass das auch im globalen Norden oder im Westen verstanden werden kann. Und genau diese Projekte versuchen wir uns genauer anzugucken, also auf der einen Seite sowohl jetzt analog oder traditionell ethnografisch und auf der anderen Seite eben auch dann digital. Also was passiert hier in diesem Übersetzungsprozess.
Birgitt Röttger-Rössler: Ja Danke, mich interessiert euer methodisches Vorgehen, kannst du dazu noch etwas sagen? Ich finde zwei Aspekt besonders spannend, zum einen wie ihr die Verschränkung von analoger und digitaler Sphäre erfasst, die bei euch ja eine große Rolle spielt, und zum anderen frage ich mich auch, ob ihr überhaupt auch Medieninhalte im größeren Stil sammelt, dokumentiert und auswertet, also ob ihr so etwas wie computationelle Verfahren anwendet oder ob die gar keine Rolle spielen.
Jürgen Schaflechner: Ja also zu Beginn des Projektes hatten wir sehr wohl sehr viel soziale Mediendaten versucht auszuwerten, das hatte auch damit zu tun, dass wir im ersten Jahr gar nicht ins Feld durften aufgrund der Corona-Pandemie, und daraus hat sich eine ganz interessante Sicht dann auch ergeben, dadurch das der Fokus wirklich ein ganzes Jahr oder für sechs Monate auf die Auswertung von diesen Daten dann gelegt wurde, war es dann plötzlich ganz anders, als wir dann ins Feld kommen konnten. Und einige dieser Daten von sozialen Medien hatten sich dann völlig anders dargestellt. Man konnte sozusagen hinter den Avatar gucken, man konnte dahintergucken, wie auch Aktivisten und die vermeintlichen Opfer selbst sich online dargestellt haben.
Diese Verschränkung glaube ich ist das Interessanteste hier an dieser Frage auch, genau zu gucken auf der einen Seite, wie will man sich digital darstellen, wer ist der Adressat vielleicht dieser Darstellung und wie kommt es zu dieser Darstellung online. Und das ist glaube ich die zentrale Frage und das Interessanteste an diesem Forschungsprojekt.