Logo

Suche in DATA AFFAIRS

ArtikelOnline-Ethnografie

Online-Ethnografie

Übersicht

In diesem Artikel geht es um die ethnografische Online-Forschung und ihren Herausforderungen im Umgang mit den Daten, die sich im bzw. durch das Internet erhalten lassen. Die Vielschichtigkeit ethnografischer Online-Forschung wird hier lediglich angerissen.

Definition

Mit dem Begriff ethnografische Online-Forschung werden methodologische Ansätze bezeichnet, die sich – aufbauend auf der etablierten ethnografischen Praxis – der Erforschung virtueller Welten und deren Kommunikationszusammenhängen widmen.

Einführung

„…it is difficult to describe yourself as doing “anthropological research” if you are sitting at a computer and typing back and forth with invisible people”.

(Tratner, 2016, p. 178)

Online-Ethnografie wird immer mehr zu einem Bestandteil sozial-kulturanthropologischer Forschungen, da sich analoge und digitale Welten zunehmend verschränken und sich die Grenzen des „Feldes“ in den virtuellen Raum verschieben. Entsprechend wird auch den methodologischen und ethischen Aspekten von Online-Forschung immer mehr Aufmerksamkeit zuteil (Hine, 2006; Boellstorff et al., 2012; Sanjek & Tratner, 2016; Franken, 2023).

„To what extent are the procedures and assumptions that are currently taken for granted in ethnography suitable for online research? How does one take ethnographic fieldnotes on a social network site (SNS), a multiuser dungeon (MUD), or a community blog? How do we deal with the large amount of data available online?“

(Schrooten, 2016, p. 80)

Im Folgenden werden wir exemplarisch einige Herausforderungen ansprechen, die mit ethnografischer Online-Forschung verbunden sind. Zuvor muss betont werden, dass wir hier nicht von digitalen MethodenDigitale Methoden nutzen computationelle Verfahren zur Gewinnung und Aufbereitung von Daten sowie zur Analyse dieser Daten. Digitale Methoden bilden einen neuen, interdisziplinären Forschungsbereich, bei dem es im Kern darum geht, computerbasierte Verfahren zu entwickeln und zu verwenden, die es ermöglichen gesellschaftliche, soziale und kulturelle Phänomene zu analysieren. Die wichtigsten beiden Richtungen sind die Digital Humanities (DH) und die Computational Social Sciences (CSS). Eine gute Einführung in die digitalen Methoden in der qualitativen Forschung bietet Franken (2023). Weiterlesen sprechen, die computationelle Analyseverfahren verwenden, um größere Datenmengen (Big Data) zu erheben und zu verarbeiten, sondern uns auf die ethnografische Untersuchung virtueller Welten und Gemeinschaften sowie digitalisierter Alltagswelten beschränken. Einen sehr guten Überblick über die Möglichkeiten digitaler Methoden innerhalb der qualitativen Sozialforschung bietet Franken (2023).

Einen Meilenstein der ethnografischen Online-Forschung stellt das Buch „Coming of Age in Second Life. An Anthropologist explores the Virtual Human“ von Tom Boellstorff (2008) dar. Der amerikanische Sozial- und Kulturanthropologe hat zwei Jahre die virtuelle Welt dieser Online-Umgebung vermittels seines Avatars, Tom Bukowski, teilnehmend beobachtend erforscht.

Quelle: Dr. Tom Boellstorff's Talk, Blue Myanamotu lizenziert unter CC BY 2.0

Ihn interessierte, was sich mittels ethnografischer Forschung über virtuelle Welten herausfinden lässt. Sein Ziel lag nicht darin, die analoge und digitale Welt abzugleichen und zu erfassen, welche Menschen in der realen Welt hinter den Figuren stehen, mit denen er in Second Life interagierte. Sein Forschungsinteresse galt vielmehr der Entschlüsselung der Strukturen und Muster, welche die Figuren in Second Life schufen.

„I took their activities and words as legitimate data about culture in a virtual world.”

(Boellstorff, 2008, p. 61)

Boellstorff hat konsequent ethnografische Methoden angewandt: teilnehmende Beobachtung sowie Interviews, informelle Gespräche und Fokusgruppen-Diskussionen mit den Avataren. Diese hat er mittels informierter EinwilligungInformierte Einwilligung (informed consent) meint die Zustimmung der Forschungsteilnehmenden zur Teilnahme an einem Forschungsvorhaben auf der Basis umfangreicher und verständlicher Informationen. Die Ausgestaltung einer informierten Einwilligung muss dabei sowohl ethische Grundsätze als auch datenschutzrechtliche Anforderungen adressieren. Weiterlesen um ihre Zustimmung gebeten, ihre Unterhaltungen aufzuzeichnen und seine Beobachtungen notieren zu dürfen. Die Namen der Avatare, die ja keine Klarnamen waren, hat er pseudonymisiertDie Pseudonymisierung ist 'die Verarbeitung personenbezogener Daten in einer Weise, in der die personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren natürlichen Person zugewiesen werden können' (BlnDSG §31, 2020; EU-DSGVO Artikel 4 Nr. 5, 2016).  Weiterlesen und die Informationen über einzelne Figuren soweit verfremdet, dass sie in Second Life nicht ohne weiteres identifizierbar waren. Er gibt an, über tausend Seiten Feldnotizen, größtenteils handschriftlich, angefertigt zu haben, die ihm neben abgespeicherten Chatverläufen und den Audio- sowie Videoaufnahmen von Szenen und Gesprächen in Second Life als Datengrundlage für seine Monographie dienten.

Das Beispiel der Studie von Tom Boellstorff zeigt, dass es sich grundsätzlich anbietet, auch bei ethnografischer Online-Forschung in ganz konventioneller Weise vorzugehen, also zu beobachten, teilzunehmen, zu fragen und zu notieren und scratchnotes und fieldnotes anzufertigen. Daneben – und das ist entscheidend – gilt es, die im Netz produzierten Daten, wie z. B. Chatverläufe, Bild- und Videomaterialien für die spätere Analyse abzuspeichern. Bedenkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, was Boellstorff über die Leichtigkeit sagt, mit der sich in virtuellen Kontexten Daten erhalten und speichern lassen:

“The ease of obtaining data in virtual worlds can also be a curse, because the very process of memory and handwriting force ethnographers to focus on what seem to be the most consequential incidents encountered during participant observation”.

(Boellstorff, 2008, p. 71)

Zahlreiche Ethnograf*innen forschen sowohl offline wie online und folgen ihren Forschungsteilnehmer*innen ins und im Netz, beispielweise wenn sie sich den virtuellen Gemeinschaften zuwenden, die Migrant*innen häufig gründen, um einander Orientierungshilfen und Tipps bezüglich ihres neuen Lebensumfeldes zu geben oder wenn sie untersuchen, wie sich unterschiedliche politische, ethnische oder religiöse Minderheiten online präsentieren. Viele setzen ihre analogen Forschungen auch nach der Rückkehr aus dem Feld über Messenger-Dienste fort. Je nachdem, welcher virtuelle Bereich oder welche virtuelle Erweiterung analoger Lebenswelten untersucht werden soll, bieten sich unterschiedliche Erhebungs- und Aufzeichnungstechniken an. Eine grundsätzliche Frage ist, wie die Forscher*innen die jeweiligen Netzinhalte dokumentieren bzw. speichern. Hier gilt es zu unterscheiden, ob es sich um forschungsinduzierte oder prozessinduzierte digitale Daten handelt (Baur & Graeff, 2021; Franken, 2023). Forschungsinduzierte Daten werden durch die Forschenden explizit erzeugt, z. B. in Form von Interviews, Fragen in Chatgruppen, SurveysAls Survey (dt. Umfrage, Erhebung) werden in den Sozialwissenschaften standardisierte, quantitative Überblicksstudien bezeichnet, die Aufschluss über bestimmte Personengruppen oder Beobachtungseinheiten geben sollen wie z. B. Haushalte, Familienstrukturen, Altersgruppen (Jugend, Rentner, Erwerbstätige etc.), oder auch einzelne Unternehmen und Organisationen. Survey-Daten werden meist mittels Befragung (in Form von Fragebögen oder direkten strukturierten Befragungen) erhoben. Sie bilden statistische Mikrodaten, die es ermöglichen, Zusammenhänge und Merkmale bis auf die Ebene des Individuums zu untersuchen. Surveys gehören zu den Standardverfahren der quantitativen Sozialforschung, werden aber auch in der Sozial- und Kulturanthropologie eingesetzt, um Überblicksinformationen über bestimmte soziale Parameter zu erhalten wie z. B. Haushaltszusammensetzungen, ökonomische Verhältnisse oder Altersstrukturen einer BevölkerungEine Übersicht über bedeutende sozialwissenschaftliche Surveys in Bezug auf Deutschland und die entsprechenden Datenbanken bietet Gesis (Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften): https://auffinden-zitieren-dokumentieren.de/auffinden/b-erhebungsdaten/.. Weiterlesen, aber auch im Rahmen persönlicher Konversationen in z. B. WhatsApp-Gruppen, während prozessinduzierte Daten im Netz vorgefunden werden, wie beispielweise die Postings in Foren, Blogs oder Social Media. Bezüglich der vorgefunden Daten lässt sich nochmals unterscheiden zwischen Trace-Daten, also Spuren, die Menschen unbeabsichtigt im Netz hinterlassen, und Social-Media-Daten, die von Menschen bewusst erzeugt werden, indem sie sich etwa ein Profil auf einer Plattform anlegen und dieses mit Inhalt füllen (Franken, 2023, p. 67).

Forschungsinduzierte digitale Daten lassen sich in ähnlicher Weise behandeln wie analoge DatenBei analogen Forschungsmaterialien handelt es sich um Artefakte oder Gegenstände des rituellen oder alltäglichen Gebrauchs. Sie werden während ethnografischen Feldforschungen angefertigt oder gesammelt und können außerdem als Fotos, Notizen, Bücher, Tonbänder, Zeichnungen oder Plastiken vorliegen. Um sie online nachnutzbar zu machen, müssen die Materialien zunächst digitalisiert und mit entsprechenden Metadaten versehen werden, damit sie z. B. in einem Repositorium zur Verfügung gestellt werden können (Forschungsdaten.info, 2023). Die Organisation OpenAIRE liefert zum sicheren Umgang mit analogen, nicht-digitalen Forschungsdaten eine Handreichungsiehe: https://www.openaire.eu/non-digital-data-guide. Weiterlesen und unterliegen denselben Anforderungen an DatenschutzDatenschutz beinhaltet Maßnahmen gegen ein unrechtmäßiges Erheben, Speichern, Teilen und Nachnutzen von personenbezogenen Daten. Der Datenschutz stützt sich auf das Recht der Selbstbestimmung von Individuen in Bezug auf den Umgang mit ihren Daten und ist in der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), dem Bundesdatenschutzgesetz und in den entsprechenden Gesetzen der Bundesländer verankert. Ein Verstoß gegen datenschutzrechtliche Vorschriften kann strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Weiterlesen, DatensicherheitUnter Datensicherheit werden alle präventiven Maßnahmen physischer und technischer Art verstanden, die dem Schutz digitaler und auch analoger Daten dienen. Datensicherheit soll für deren Verfügbarkeit bürgen, sowie die Vertraulichkeit und Integrität der Daten gewährleisten. Beispiele für Maßnahmen sind: Passwortschutz für Geräte und Online-Plattformen, Verschlüsselungen für Software z. B. E-Mails und auch Hardware, Firewalls, regelmäßige Softwareupdates sowie sicheres Löschen von Dateien. Weiterlesen und EthikForschungsethik befasst sich mit dem Verhältnis zwischen Forschenden, Forschungsfeld und Beforschten. Dabei wird dieses Verhältnis vor dem Hintergrund der durch die Forschung hergestellten Vulnerabilitäten und Machtasymmetrien kritisch reflektiert (Unger, Narimani & M’Bayo, 2014, p.1-2). Gerade wegen der Prozesshaftigkeit und Offenheit einer ethnografischen Forschung treten forschungsethische Fragen im gesamten Forschungsprozess in verschiedener Weise auf. Sie variieren je nach Forschungskontext und Forschungsmethoden. Forschungsethik hört allerdings nicht mit dem Verlassen des Feldes auf, sondern umfasst ebenfalls Fragen der Datenarchivierung, des Datenschutzes sowie des Teilens der Forschungsdaten mit den Forschungsteilnehmenden (siehe z. B. Ethikpapiere der DGSKA oder das Positionspapier zur Archivierung, Bereitstellung und Nachnutzung von Forschungsdaten der dgv). Weiterlesen. Sie können genauso wie analog aufgezeichnete Interviews oder Gesprächsprotokolle ausgewertet und in anonymisierterLaut Bundesdatenschutzgesetz (BDSG § 3, Abs. 6 in der bis 24.05.2018 gültigen Fassung) versteht man unter Anonymisierung alle Maßnahmen der Veränderung personenbezogener Daten derart, 'dass die Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse nicht mehr oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand an Zeit, Kosten und Arbeitskraft einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person zugeordnet werden können.' Anonymisierte Daten sind demnach Daten, die keinen Rückschluss (mehr) auf die betroffene Person geben. Sie unterliegen damit nicht dem Datenschutz bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Weiterlesen oder pseudonymisierterDie Pseudonymisierung ist 'die Verarbeitung personenbezogener Daten in einer Weise, in der die personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren natürlichen Person zugewiesen werden können' (BlnDSG §31, 2020; EU-DSGVO Artikel 4 Nr. 5, 2016).  Weiterlesen Form in die Veröffentlichungen einfließen.

Wie aber sieht es mit den prozessinduzierten Daten aus? Wie ist mit Informationen umzugehen, die den sozialen Medien entnommen werden? Diesbezüglich ist die Auffassung weit verbreitet, dass in Social Media zirkulierende Informationen frei verfügbar sind, da die jeweiligen Datenproduzent*innen, also die Nutzer*innen der Plattformen deren jeweiligen allgemeinen Geschäftsbedingungen zugestimmt haben und somit die Nutzung der Daten über einen offiziellen Zugang zu der Plattform rechtlich abgesichert ist. Aber ist die Nutzung damit auch ethisch vertretbar? Die Nutzer*innen der Plattform haben ja nicht der Forschung zu gestimmt, sondern nur den Geschäftsbedingungen (Franken, 2023, p. 31). Da bei automatisierten Speicherungen keine informierte Einwilligung möglich ist, gilt es im Einzelfall genau abzuwägen, ob es ethisch vertretbar ist, die Daten für eigene Forschungszwecke zu verwenden (Franken, 2023, p. 31).

In geschlossenen bzw. teilöffentlichen Chatgruppen und Foren, für die man sich bei Administrator*innen anmelden muss, lassen sich informierte Einwilligungen einfacher einholen, entweder bei den Adminstrator*innen direkt oder in dem sie in den Chat gestellt werden (s. a. Schrooten, 2016). Es sollte idealerweise auch gefragt werden, ob Threads abgespeichert werden dürfen. Diese gilt es dann sicher zu verwahren, sie sollten nicht als komplette Datensätze veröffentlicht werden. Denn auch wenn in Chatgruppen selten jemand mit Klarnamen agiert, so lassen sich – zumindest bei spezifischen Gruppen – die Personen hinter den Profilen durchaus dechiffrieren und zwar selbst dann, wenn die Ethnograf*innen die Usernamen nochmals durch Pseudonyme ersetzt haben. Denn durch „Rückwärtssuche“ online sind digitale Daten leicht zu de‑anonymisieren:

“Wenn wir wörtlich zitieren, so muss meist nur dieser Text in eine Suchmaschine eingegeben werden, um die Quelle offenzulegen“.

(Franken, 2023, p. 31)

Kurz: Im Umgang mit digitalen Informationen gilt es, Aspekte des Datenschutzes ebenfalls sorgfältig zu bedenken. Eine Entscheidungshilfe bietet die Faustregel, die von Unger et al. aufgestellt haben:

„Sind die Daten (1.) komplett öffentlich zugänglich, muss nicht zwingend eine informierte Einwilligung eingeholt werden, zitierte Textstellen sollten jedoch stark anonymisiert und bei ethisch besonders heiklen Themen bzw. einer im Falle einer Rückverfolgung hohen Gefährdung der Personen, deren Daten verwendet werden, zudem sinngemäß paraphrasiert werden. Sind die Daten (2.) teilöffentlich, wie z. B. bei Foren mit benötigtem Login, sollte über sogenannte Gate Keeper, also Forenleiter, Webseitenbetreiber etc., eine informierte Einwilligung eingeholt werden und für Anonymisierung und Zitation der gleiche Maßstab wie bei öffentlich zugänglichen Daten angewandt werden. Sind die Daten (3.) privat, also z. B. nur bei einer gegenseitigen Freundschaft auf Facebook sichtbar, muss unbedingt eine informierte Einwilligung eingeholten werden. Da solche Daten jedoch fast nicht rückverfolgbar sind, kann die Anonymisierung weniger strikt ausfallen und im Normalfall direkt zitiert werden. Es empfiehlt sich, trotzdem wie im Falle von Interviews nicht den Usernamen zu verwenden und ggf. auch andere Aspekte zur Person zu verändern. Bei nicht textbasierten Daten, also gespeicherten Bildern oder Videos, ist sich am selben Anonymisierungsschema zu orientieren, wobei da teils nicht nur Namen und Inhalte, sondern auch audiovisuelle Elemente wie Gesichter, Umgebungen oder Stimmen anonymisiert werden müssen.“

(von Unger, Franken & Egger, 2022, p. 8)

Wenn sich Sozial- und Kulturanthropolog*innen in virtuellen Gemeinschaften bewegen, Fragen stellen sowie mitdiskutieren und dies alles dokumentieren, so wird ihr Vorgehen, ihre Perspektive transparent und ebenfalls mitverzeichnet, was durchaus ein Vorteil ist. Einige sprechen davon, dass sich im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung im Netz fieldnotes scheinbar von selbst schreiben (Nardi, 2016): Die Ethnografin fragt oder kommentiert etwas im Chat und erhält Antworten oder Reaktionen, die sie nur abzuspeichern braucht. Der dialogische Charakter der Forschung wird so augenscheinlich, zugleich aber auch die Frage, wem die Daten letztlich gehören (Jackson, 2016, p. 57). Diese Transparenz bedeutet natürlich auch, dass alle “fieldwork errors or missteps are visible in these communications and preserved openly for all who may view the website” (Tratner, 2016, p. 188), da sich die Ethnograf*innen in der Regel auch in ihren Usernamen kenntlich machen. So hat Susan Tratner sich z. B. in ihrer Untersuchung von amerikanischen Parenting-Websites als „anthropologistmom“ kenntlich gemacht, um die Chatteilnehmer*innen an ihre Forscher*innenrolle zu erinnern (Tratner, 2016, p. 177).

Motivation

Die fortschreitende Digitalisierung von Gesellschaften, die immer stärker in die unterschiedlichsten Lebensbereiche eindringt und soziale Kommunikationsformen und Lebenswelten in zunehmendem Maße prägt, macht eine Auseinandersetzung mit den methodischen Möglichkeiten ethnografischer Online-Forschung sowie mit einem rechtssicheren und verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Daten unumgänglich.

Anwendungsbeispiele

Folgende Beispiele aus der Praxis zeigen die enge Verschränkung zwischen analoger und digitaler Welt auch im Forschungsprozess.

Beispiel 1: Auszug aus einem Interview mit Max Kramer zu seinen Forschungen im Umfeld muslimischer Akteur*innen in Indien, 2023

als Audio

Quelle: Interviewauszug Röttger-Rössler mit Kramer zu Forschungen in Indien, 2023, lizenziert unter CC BY-NC-ND 4.0

als Transkript


Birgitt Röttger-Rössler: Ich spreche mit dem Sozialanthropologen Dr. Max Kramer, der sich in seinen aktuellen Forschungen mit religiösen genauer mit muslimischen Minderheiten in Indien und ihren medialen Praktiken beschäftigt. Max, wenn ich das richtig verstanden habe, interessiert dich vor allem die taktische Nutzung digitaler Plattformen durch religiöse Minderheiten. D. h. du nimmst gezielt in den Blick, wie Erfahrungen, die Aktivist*innen in ihren analogen Lebenswelten machen, online repräsentiert werden. Kann man das so sagen?

Max Kramer: Ja, das kann man nicht direkt so sagen, also zum einen, weil diese Aktivist*innen keine analogen Lebenswelten mehr haben, sondern ihre Lebenswelt tief mediatisiert ist. D. h., dass in ihrer Alltagspraxis im Grunde keine sinnvolle Online-Offline-Trennung mehr da ist, sondern eher so'ne Art taktischer Nutzung verschiedener Affordanzen, die gewisse Möglichkeiten bieten und auch mit gewissen Gefahren einhergehen. Und Taktik verstehe ich als etwas, was aus dem langfristigen Lernen herauskommt. Dieses Lernen hat nicht nur etwas mit der Frage der Repräsentation zu tun. Also ich beschäftige mich vor allem mit, was man ethische Fragen nennen könnte zum Beispiel, wie man sich emotional auf 'ne Twitterpraxis einstellt, wie man manchmal lieber ein Gedicht schreibt als 'nen politischen Tweet mit Nachrichtenwert, wie man manchmal für Monate die Plattform verlässt, um den politischen Gegnern zu folgen und so'n bisschen was über das rassistische Ökosystem zu lernen, was es da in Indien gibt und was die Hindu-Nationalisten aufgebaut haben in den letzten 15 Jahren, wie man an sich selbst arbeitet, um zur richtigen Zeit mit den richtigen Emotionen auf der richtigen Plattform den richtigen Inhalt zu posten. Das sind so taktisches Raffinesse, die man da über teilweise einen ziemlich brutalen Lernprozess sich aneignet. Weil sonst kann es nämlich passieren, dass man ‚geframed' wird, oder dass man zur Inszenierung von moralischer Empörung durch den politischen Gegner herhalten muss. Also meine Gesprächspartner*innen überlegen sich halt, was sie machen können, damit sowas nicht passiert.

Birgitt Röttger-Rössler: Wenn ich da mal kurz eingreifen also reinfragen darf, das ist sehr interessant finde ich, was du da erzählst, weil (du) ganz überzeugend dargelegt hast, dass eben diese Trennung zwischen Online und offline, virtueller oder digitaler und analoger Welt ja eigentlich so gar nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Eben dass all die medialen und digitalisierten Praktiken unseren Alltag bestimmen und diese Trennung eigentlich dann schon eine künstliche ist. Das fordert ja natürlich auch die sozialanthropologische Forschung heraus, wir müssen ja damit umgehen. Also, wie machst du das? Du hast mir zum Beispiel erzählt, in unseren Vorgesprächen, dass du eben den tonangebenden politischen Aktivist*innen also denen mit sehr viel Einfluss mit großen Twitterhandles, oder Xhandles wie es jetzt heißen müsste, zunächst immer online gefolgt bist und verfolgt hast, was die machen, wie sie sich repräsentieren, mit wem sie interagieren, auf wen sie reagieren usw. und dann aber versucht hast natürlich auch über deine vielen Kontakte mit diesen Personen in Kontakt zu kommen. Und ja, wie hast du einmal da dann deine Onlinerecherche dokumentiert und gespeichert, das interessiert mich, und auch diese Verschränkung, wie dokumentierst du diese Verschränkung, von der du gerade gesprochen hast, von analoger und digitaler Welt?

Max Kramer: Es ist eher so eine kreisende Bewegung, ich habe bereits aus früherer Forschung Netzwerke gehabt in Dehli und in Bombay und ich musste wegen dieser Akteure lesen und retweeten, und das waren meistens Leute, die relativ große Handles haben. Damit meine ich mehr als 50.000 Follower oft auch bis zu 150.000 Follower, vielleicht könnte man sagen Twitter-Microstar-Personas. Denen bin ich dann erst einmal allen gefolgt. Das sind nicht so viele auf Indien verteilt, die so'ne Größe an Follower zusammenbringen. Und ich habe dann versucht so schnell wie möglich, diese Leute persönlich zu treffen. Also meine hauptsächlichen Daten sind also Gespräche über die Praxis. Was mich interessiert ist, was den Akteuren wichtig ist. Was ist für sie in ihrer Praxis wichtig, was für Probleme haben sie, wenn sie auf sozialen Netzwerken unterwegs sind und wie lernen sie, mit diesen Problemen umzugehen, sie zu vermeiden, neue taktische Zugänge zu entwickeln usw. Vor dem ersten Treffen mit Aktivisten habe ich mir normalerweise die letzten Monate ihrer Tweets angeschaut und dann gelegentlich Screenshots gemacht, wenn ich dachte, das ist ein Tweet, der viel geteilt wurde, der stark problematisiert wurde, der vielleicht auch dazu geführt hat, dass ein Gerichtsverfahren gegen diese Akteure gestartet wurde usw. das sind dann Tweets, von denen ich Screenshots gemacht habe und die ich dann ins erste Gespräch genommen habe. Mir ist dann aber auch bald aufgefallen, dass die Screenshots, die ich gemacht habe im Vorfeld, dass das für die Akteure nicht unbedingt besonders wichtige Tweets waren. Also das für ihre eigene Erinnerung an ihre Twittergeschichte diese Tweets eher nebensächlich waren, aber ganz andere Tweets viel bedeutender waren. Dann habe ich mich dann mit diesen Tweets auseinandergesetzt, Screenshots von denen gemacht und die in Ordner gespeichert und diese Ordner verschlüsselt und auf einer sicheren Festplatte in einer verschlüsselten Form verwahrt dann. Das mache ich mit allen Daten, die ich sammle.


Beispiel 2: Auszug aus einem Interview mit Jürgen Schaflechner zu seinen Forschungen im Umfeld muslimischer Akteur*innen in Pakistan, 2023

als Audio

Quelle: Auszug 1 aus einem Interview von Röttger-Rössler mit Schaflechner zu Forschungen in Pakistan, 2023, lizenziert unter CC BY-NC-ND 4.0

als Transkript


Birgitt Röttger-Rössler: Ich spreche mit dem Sozialanthropologen Dr. Jürgen Schaflechner, der das von der VW-Stiftung geförderte Forschungsprojekt „The Populism of the Precarious“ leitet, das sich mit der Frage beschäftigt, wie sich diskriminierte, religiöse Gemeinschaften in Indien und Pakistan, vermittels sozialer Medien als politische Akteure positionieren. Jürgen Schaflechner sitzt mir virtuell gegenüber, da er sich gerade auf Feldforschung in Pakistan befindet.
Jürgen, Danke, dass du dir trotzdem Zeit für unser Gespräch nimmst. Kannst du mir als Erstes einmal ganz kurz dein Forschungsthema näher umschreiben?

Jürgen Schaflechner: Ja, herzlichen Dank für dieses Gespräch. Das Projekt „The Populism of the Precarious“ beschäftigt sich mit der Frage, was sich mit dem Aufkommen der sozialen Medien in den letzten 10 Jahren für Minderheiten, im Besonderen für religiöse Minderheiten in Südasien verändert hat. D. h. ein Teil des Projektes beschäftigt sich mit muslimischen Minderheiten in Indien, ein anderer Teil, in dem ich jetzt mehr involviert bin, beschäftigt sich mit der Frage der nicht-muslimischen Gruppierungen in Pakistan, sprich Hindus, Christen, Juden usw. Und über die letzten Jahre hat sich hier immer mehr und mehr die Frage ergeben, was passiert denn eigentlich, wenn der Mittelmann oder die Institution, die früher zwischen den religiösen Minderheiten in Pakistan oder in Indien „on the ground“ sozusagen vermittelt hat, wenn dieser Mittelmann wegfällt. Wenn man sich sozusagen in dem Raum befindet, wo man sich selbst inszenieren kann. Und das Interessante, was wir hier gefunden haben, ist dass es sich hier sehr schnell zu einer ganz neuen Systematik der Sichtbarkeit hin entwickelt, wo Akteure mit sehr klugen Mitteln sich selbst inszenieren. Und zwar auf eine Art und Weise selbst inszenieren, die kokettiert mit einem meistens westlichen oder mit einem Blick aus dem globalen Norden versucht, ein bestimmtes Bild zu repräsentieren, wo Opferschaft, wo Verfolgung dargestellt wird, übersetzt wird, so dass das auch im globalen Norden oder im Westen verstanden werden kann. Und genau diese Projekte versuchen wir uns genauer anzugucken, also auf der einen Seite sowohl jetzt analog oder traditionell ethnografisch und auf der anderen Seite eben auch dann digital. Also was passiert hier in diesem Übersetzungsprozess.

Birgitt Röttger-Rössler: Ja Danke, mich interessiert euer methodisches Vorgehen, kannst du dazu noch etwas sagen? Ich finde zwei Aspekt besonders spannend, zum einen wie ihr die Verschränkung von analoger und digitaler Sphäre erfasst, die bei euch ja eine große Rolle spielt, und zum anderen frage ich mich auch, ob ihr überhaupt auch Medieninhalte im größeren Stil sammelt, dokumentiert und auswertet, also ob ihr so etwas wie computationelle Verfahren anwendet oder ob die gar keine Rolle spielen.

Jürgen Schaflechner: Ja also zu Beginn des Projektes hatten wir sehr wohl sehr viel soziale Mediendaten versucht auszuwerten, das hatte auch damit zu tun, dass wir im ersten Jahr gar nicht ins Feld durften aufgrund der Corona-Pandemie, und daraus hat sich eine ganz interessante Sicht dann auch ergeben, dadurch das der Fokus wirklich ein ganzes Jahr oder für sechs Monate auf die Auswertung von diesen Daten dann gelegt wurde, war es dann plötzlich ganz anders, als wir dann ins Feld kommen konnten. Und einige dieser Daten von sozialen Medien hatten sich dann völlig anders dargestellt. Man konnte sozusagen hinter den Avatar gucken, man konnte dahintergucken, wie auch Aktivisten und die vermeintlichen Opfer selbst sich online dargestellt haben.

Diese Verschränkung glaube ich ist das Interessanteste hier an dieser Frage auch, genau zu gucken auf der einen Seite, wie will man sich digital darstellen, wer ist der Adressat vielleicht dieser Darstellung und wie kommt es zu dieser Darstellung online. Und das ist glaube ich die zentrale Frage und das Interessanteste an diesem Forschungsprojekt.

Literatur und Quellenangaben

  • Baur, N. & Graeff, P. (2021). Datenqualität und Selektivitäten digitaler Daten. Alte und neue digitale und analoge Datensorten im Vergleich. In: Blättel-Mink, B. (Hg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. (2021.) https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2020/article/view/1362

  • Boellstorff, T. (2008). Coming of Age in second Life: An Anthropologist explores the Virtual Human. Princeton: Oxford Press.

  • Franken, L. (2023). Digitale Methoden für qualitative Forschung. Computationelle Daten und Verfahren. UTB Münster. (UTB Studium). https://www.utb.de/doi/book/10.36198/9783838559476

  • Jackson, J. (2016). Changes in Fieldnote Practices over the Past Thirty Years. In US Anthropology. In  Sanjek, R. & Tratner, S. (Eds). (2016). eFieldnotes. The Makings of Anthropology in the Digital World. Philadelphia. University of Pennsylvania Press. https://doi.org/10.9783/9780812292213

  • Nardi, B.A. (2016). When Fieldnotes Seem to Write Themselves: Ethnography Online. In  Sanjek, R. & Tratner, S. (Eds). (2016). eFieldnotes. The Makings of Anthropology in the Digital World. Philadelphia. University of Pennsylvania Press. https://doi.org/10.9783/9780812292213

  • Schrooten, M. (2016). Writing eFieldnotes. Some Ethical Considerations. In  Sanjek, R. & Tratner, S. (Eds). (2016). eFieldnotes. The Makings of Anthropology in the Digital World. Philadelphia. University of Pennsylvania Press. https://doi.org/10.9783/9780812292213

  • Tratner, S. (2016). New York Parenting Discussion Boards: eFieldnotes for New Research Frontiers. In  Sanjek, R. & Tratner, S. (Eds). (2016). eFieldnotes. The Makings of Anthropology in the Digital World. Philadelphia. University of Pennsylvania Press. https://doi.org/10.9783/9780812292213

  • von Unger, H., Franken, L., & Egger, N. (2022). Digitale Daten in der qualitativen Lehrforschung. Handreichung zum digitalen Datenmanagement für Studierende. https://www.qualitative-sozialforschung.soziologie.uni-muenchen.de/ressourcen/hinweise_qualitativ1/digitale-daten.pdf

Weitere Literatur

  • Boellstorf, T., Nardi, B., Pearce, C. & Taylor, T. L. (2012). Ethnography and Virtual Worlds: A Handbook of Method. Princeton, N.J.: Princeton University Press.

  • Domínguez, D., Beaulieu, A., Estalella, A., Gómez, E.,Schnettler, B. & Read, R. (2007). Virtuelle Ethnografie. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative SocialResearch, 8(3), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0703E19

  • Hine, C. (2006). Virtual Methods: Issues in Social Research on the Internet. Oxford: Berg.

  • König, A. (2020). Digitale Ethnographie. In Beer, B. & König, Anika (Hrsg). Methoden ethnologischer Feldforschung. Ethnologische Paperbacks. (3rd ed.). Berlin: Reimer,  223-240

Zitierweise

Röttger-Rössler, B. (2023). Online-Ethnografie. In Data Affairs. Datenmanagement in der ethnografischen Forschung. SFB 1171 & Center für Digitale Systeme, Freie Universität Berlin. https://data-affairs.affective-societies.de/artikel/online-ethnografie/