Anwendungsbeispiele: Forschungsethik und Datenethik
Bei folgenden Forschungssituationen handelt es sich um Erlebnisse des Ethnologen Hansjörg Dilger bei Forschungen in Tansania (2009/2010 und 1999/2000).
Beispiel 1.
„Das erste Beispiel betrifft meine Forschung in einer Primarschule in Dar es Salaam (2009–10). Diese war von der Pastorin einer großen Pfingstkirche Mitte der 1990er Jahre etabliert worden und ist unter der urbanen Mittelschicht aufgrund ihres Versprechens von schulischem Erfolg und „moralischer Erziehung“ bis heute stark nachgefragt. Im Forschungsprozess stellte sich u. a. heraus, dass an der Schule problematische Arbeitsbedingungen herrschten, insofern LehrerInnen keine Arbeitsverträge erhielten und sich nicht gewerkschaftlich organisieren durften, ohne eine Kündigung zu riskieren. Mir stellten sich folgende Fragen: Sollte ich über diese problematischen Erkenntnisse meiner Forschung schreiben und damit möglicherweise der Pastorin schaden, die mir den Zugang zum Alltag ihrer Schule sehr entgegenkommend verschafft hatte? Würde ich mit einer solchen Veröffentlichung nicht auch die LehrerInnen selbst gefährden, die diese Zustände zwar teils stark kritisierten, aber nach eigenen Angaben ohnehin bereits unter großem Druck standen? Sollte ich den Namen der Schule in späteren Publikationen nicht erwähnen, um nicht ausschließlich diese Einrichtung ins Licht der Kritik zu rücken? Schließlich war sie nicht die einzige Schule des Landes, die im Kontext neoliberaler Strukturreformen vergleichbare Probleme aufwies.“ (Dilger, 2020, p. 283).
Beispiel 2.
„Das zweite Beispiel stammt aus meiner Feldforschung zum Umgang mit Erkrankungen und dem Sterben an HIV/AIDS im Kontext von Land-Stadt-Migration in Tansania (1999–2000). Insbesondere im ländlichen Raum wurde ich dabei mit Situationen konfrontiert, in denen ich Kenntnis über eine mögliche Ansteckung Dritter durch HIV-infizierte Personen erhielt; hier stellte sich mir die Frage nach der eigenen ethischen Verantwortung in besonderer Weise. In einem Fall ging es um eine junge Frau, die nach wiederholten Erkrankungen im Krankenhaus HIV-positiv getestet worden war. Während das Gesundheitspersonal Teile ihrer Familie über das Ergebnis informiert hatte, wurde die Diagnose der jungen Frau selbst aus der Sorge heraus verheimlicht, dass sie damit zu stark emotional ‚belastet‘ würde. Nachdem die Frau schwanger wurde und ein – zumindest dem äußeren Anschein nach – gesundes Kind zur Welt brachte, bat sie mich um Unterstützung: Sie wollte im lokalen Krankenhaus einen HIV-Test erhalten, den ihr der zuständige Counsellor angeblich verweigert hatte. Es war offensichtlich, dass ich mit einem solchen Schritt gegen den Willen ihrer Familie handeln würde, die mir explizit gesagt hatte, dass ihre Angehörige nicht von ihrer HIV-Infektion erfahren solle. Doch ich fragte mich: Könnte die Frau durch das Wissen um ihre Diagnose nicht eine mögliche HIV-Infektion ihres Kindes verhindern, wenn sie dieses zeitnah abstillen würde? Könnte das Wissen um ihre HIV-Infektion nicht auch eine emotionale Erleichterung darstellen, da sie bezüglich des Grundes für ihre hartnäckigen Erkrankungen bis dahin im Ungewissen war?“ (ebd.).
Die Beispiele zeigen, dass standardisierte Verfahren ethischer Gutachten einerseits notwendig sind, um Teilnehmende institutionalisiert und rechtlich bindend zu schützen und menschenwürdig zu behandeln. Andererseits sind besonders ethnografische Forschungskontexte mitunter komplex und vielschichtig. Nicht immer können forschungsethische Fragen anhand ethischer Leitlinien und Vorgaben zufriedenstellend beantwortet werden.
Beispiel 3.
Ein Beispiel für den Einsatz der CARE-Prinzipien bildet die australische Nationalbibliothek, die auf ihrer Website auf den respektvollen Umgang mit sensiblen Inhalten und Materialien der Forschung mit australischen Aboriginals verweist:
Quelle: Startseite der The National Library of Australia, 2023, All rights reserved