Einführung
“Anthropologists are those who write things down at the end of the day”.
(Jackson, 1990, p. 15)
Mit diesen Worten wird auf einen zentralen Aspekt sozial- und kulturanthropologischer Aufzeichnungsstrategien Bezug genommen: das Anfertigen von Feldnotizen und deren tägliche, in der Regel abends erfolgende Ausarbeitung zu komplexen Beschreibungen des am Tage Beobachteten, Erlebten, Erfragten. Aus wenigen kurzen, stichwortartigen Notizen, die Ethnograf*innen in der Regel als Gedächtnisstütze handschriftlich in Kladden verzeichnen, werden bei der Ausformulierung meist zahlreiche Seiten umfassende Forschungsprotokolle. In der englischsprachigen Literatur werden diese aus Kurznotizen (scratchnotes, jottings) entstehenden Forschungsprotokolle vielfach als „fieldnotes“ bezeichnet (Sanjek, 1990, pp. 97). Fieldnotes sind chronologisch angelegt, was es später bei der Auswertung ermöglicht, den Erkenntnisprozess zu rekonstruieren. Die (idealerweise) täglichen fieldnotes enthalten i. d. R. Informationen zu den unterschiedlichsten Bereichen des sozialen Lebens, die erst im späteren Auswertungsprozess zu Sinneinheiten verknüpft werden. Insofern lassen sie sich als „pretext for ethnography“ verstehen (Lederman, 1990). Etliche Forschende führen neben diesen Aufzeichnungen noch Tagebücher, in denen sie primär ihr persönliches Erleben verzeichnen, wobei viele berichten, dass es ihnen schwerfalle, diese Formate zu trennen und hiermit zudem eine doppelte Schreiblast verbunden sei. Sie weben deshalb ihre persönlichen Emotionen und Wahrnehmungen in die Forschungsprotokolle mit ein, ebenso wie ethnografische Beschreibungen auch Eingang in die Tagebücher finden. Bedeutsam ist, dass Sozial- und Kulturanthropolog*innen diese drei zentralen Textformate – scratchnotes, fieldnotes, diaries – nicht für Andere, sondern zunächst einmal nur für sich selbst schreiben und sie dementsprechend auch nur durch sie selbst vollständig dechiffrierbar sind (Lederman, 1990, p. 72). Auf diesen Aspekt beziehen sich auch die Befürchtungen vieler Ethnograf*innen, dass Open-Science-Forderungen stark in die Aufzeichnungsroutinen eingreifen, indem sie potentielle Nachnutzer*innen als imaginierte Leserschaft einführen und damit die Form von fieldnotes tiefgreifend verändern (vgl. Artikel Daten in der ethnografischen Forschung).
Neben den drei genannten Textformaten spielen noch die sogenannten „headnotes“ eine Rolle, d. h. all die im Gedächtnis gelagerten Informationen, die bei der Auswertung der Forschungsdokumente und -materialien eine große Rolle spielen:
„We come back from the field with fieldnotes and headnotes. The fieldnotes stay the same, written down on paper, but the headnotes continue to evolve and change as they did during the time in the field.”
(Sanjek, 1990, p. 93)
Hier wird auf die Bedeutung der Gedächtnisinhalte verwiesen, auf all das implizite, im Verlauf der Forschung erworbene Wissen, das keinen Eingang in die Feldaufzeichnungen gefunden hat, aber in der späteren Auseinandersetzung mit diesen bei der Auswertung und beim Verfassen des ethnografischen Textes eine enorme Rolle spielt (s. a. Fabian, 2011). Von äußerster Relevanz sind hingekritzelte Kurznotizen und headnotes vor allem in Situationen, in denen Forschende keinerlei Aufzeichnungen machen können, weder auf Papier noch im Laptop, und auf spätere Niederschriften aus dem Gedächtnis heraus angewiesen sind.
Quelle: Textformate in der ethnografischen Forschung, Anne Voigt mit CoCoMaterial, 2023, lizenziert unter CC BY-SA 4.0
Beispielhaft sei hier auf die Forschungen zum Transsahara-Handel von Meike Meerpohl im Tschad zwischen 2003 und 2007 verwiesen, die durch den gewaltvollen Darfur-Konflikt tangiert wurden und damit durch zahlreiche politisch brisante Situationen gekennzeichnet war, während derer unmittelbare Aufzeichnungen nicht möglich waren, so dass vieles aus dem Gedächtnis aufgeschrieben werden musste. Meerpohl berichtet, dass sie sich vielfach mit einem tiefsitzenden Misstrauen konfrontiert sah, das ihr offene Notizen während Gesprächen, den Einsatz eines Aufnahmegerätes sowie das offene Kartographieren der Strukturen lokaler Märkte unmöglich machten, so dass sie vieles im Nachhinein auf- und verzeichnen musste (Meerpohl, 2009, pp. 32). Sie sieht die Gründe für diese im Tschad vorherrschende Skepsis gegenüber Fremden in dem langen Bürgerkrieg, der französischen Kolonialherrschaft sowie dem insgesamt sehr repressiven Staat (Meerpohl, 2009, p. 35). Ebenso wenig war es der Forscherin möglich, während ihrer Teilnahme an einer 1000 km umfassenden Wüstendurchquerung mit einer Kamelkarawane, täglich regelmäßig Aufzeichnungen zu machen oder extensive Interviews zu führen, hierzu reichte ganz einfach abends nach einem 12 bis 15-stündigen Kamelritt die Kraft nicht mehr (Meerpohl, 2009).
Aber auch bei Feldforschungen in weniger problematischen Kontexten lassen sich im Rahmen teilnehmender Beobachtung die gewonnen Erkenntnisse nur im Nachhinein protokollieren, auch wenn dies in der Regel ohne große zeitliche Verzögerung passiert, so dass nicht allzu viel ‚vergessen‘ wird. Die Grenzen der Protokollierbarkeit beziehen sich vor allem auf die zahlreichen multi-sensorischen Eindrücke, die Forschende bei teilnehmender Beobachtung erhalten. Diese lassen sich nur partiell versprachlichen und verbleiben zu einem großen Teil im Körpergedächtnis der Forschenden.