Anwendungsbeispiele
Folgende Beispiele aus der ethnografischen Praxis sollen die Schwierigkeiten und Grenzen der Pseudonymisierung im Feld und bei der Publikation untermauern und zeigen, wie Wissenschaftler*innen mit diesen umgehen.
Beispiel 1: Pseudonymisierung, Bodner (2018)
In der Monografie „Berg/Leute. Ethnografie eines ausgebliebenen Bergsturzes am Eiblschrofen bei Schwaz in Tirol 1999“ (Bodner, 2018) behandelt der europäische Ethnologe Reinhard Bodner den Umgang mit Felsstürzen seitens lokaler Anwohner*innen. Die Monographie bietet ausführliche Einblicke in das methodische Vorgehen des Autors im Feld, insbesondere auch in Bezug auf Anonymisierungs- und Pseudonymisierungsstrategien. Bei einem Großteil seiner Interviewpartner*innen verzichtet der Autor auf die Nennung ihres realen Namens, um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen und verwendet stattdessen Pseudonyme bzw. Alias-Namen. Das Vorgehen begründet der Autor wie folgt:
„Lautliche Anklänge an die realen Vor- und Familiennamen wurden vermieden, durch die Verwendung von in Schwaz relativ gängigen Familiennamen versuchte ich aber eine lokale Klangfarbe zu erhalten (bzw. neu herzustellen)“ (Bodner, 2018, p.62).
So wurde Franz Müller beispielsweise nicht in Max Müller, Herr X oder die Initialen FM überführt. Vielmehr galt es, das Verfahren der Pseudonymisierung als kreativen Prozess zu verstehen und eine angemessene Balance zwischen dem Schutz der Persönlichkeitsrechte einerseits und dem Informationsgehalt des Datenmaterials andererseits zu finden. So heißen die Gesprächspartner*innen in der Publikation beispielsweise Richard Fuhrmann oder Ingrid Zoller. Namen von öffentlichen Personen wie dem Bürgermeister hingegen werden in der Monographie beibehalten, also nicht pseudonymisiert. Bei medial besonders präsenten Akteur*innen wie einem Sprecher der Bürgerinitiative, der besonders häufig in den Medien vorkommt, lässt der Autor den Vor- und Nachnamen weg, nennt aber seine soziale Funktion.
Das Beispiel zeigt, dass die Pseudonymisierung in Publikationen sehr bedeutsam für die Art der ethnografischen Repräsentation sein kann: Ethnograf*innen nehmen im Zuge der Pseudonymisierung Einfluss auf die Darstellung und damit auch auf die Wahrnehmung der Akteur*innen im Feld durch die Leser*innen. Indem durch den/die Ethnograf*in bestimmte Merkmale von Forschungsteilnehmenden aufgegriffen und betont werden, andere wiederum nicht, werden „Figuren eigenständiger Realität“ (Bodner, 2018, p. 62) geschaffen, was der/dem Forschenden bewusst sein sollte.
Beispiel 2: Fiktionalisierung, Rottenburg (2002)
Ein Beispiel für eine sehr weitreichende Fiktionalisierung bildet das Buch „Weit hergeholte Fakten. Eine Parabel der Entwicklungshilfe“ (2002) des Sozialanthropologen Richard Rottenburg. In diesem Text beschreibt er vermittels literarischer Verfremdung die Ergebnisse seiner Untersuchungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit im afrikanischen Kontext. Rottenburg arbeitet mit vier erzählerischen Instanzen: Er selbst wird als empirischer Autor lediglich in der Einleitung und im Schlusskapitel sichtbar. Die zweite Instanz bildet die Figur des Ethnografen Eduard B. Drotleff, der als Autor der ersten drei Teile des Buches auftritt und seine Forschungen schildert. Als dritte und vierte erzählerische Instanz kommen noch ein Organisationsethnologe sowie ein lokaler Unternehmer zu Wort. Alle vier Figuren verkörpern andere Rollen und Perspektiven. Durch diese literarische Technik gelingt es Rottenburg den Konstruktionscharakter des Textes zu verdeutlichen. Er begründet seine Entscheidung für diese Fiktionalisierung damit, dass die Benennung realer Akteure den Leser*innen nahelegen würde, „sich an der Frage festzubeißen: ‚Wer ist für die geschilderten Umstände eigentlich verantwortlich?‘ Die Fiktionalisierung soll dem entgegenwirken und die Aufmerksamkeit von Stärken und Schwächen existierender Akteure auf die Bedeutung allgemeiner Strukturprinzipien lenken“ (Rottenburg, 2002, p. 4).
Beispiel 3: Anonymisierung mittels Animation, Gregory Gan (2023)
„Empathy for Concrete Things“ ist ein animierter Dokumentarfilm, der 2023 von Gregory Gan veröffentlicht wurde. Der Film beschreibt die Geschichte der Plattenbauarchitektur anhand von Fallstudien der wichtigsten Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts und im Dialog mit fünf bildenden Künstler*innen, die ihre Erfahrungen mit dem Leben und Arbeiten in Plattenbauwohnungen aus der Sowjetära beschreiben. Durch die Verflechtung persönlicher und globaler Geschichten hinterfragt der Film die utopischen Fantasien der Moderne und die Bilder des Kalten Krieges vor dem Hintergrund der aktuellen humanitären und politischen Krisen.
Der Film wurde mit Originalaquarellen visualisiert, um die Erzählungen der Forschungsteilnehmenden mit künstlerischen Mitteln zu interpretieren und gleichzeitig ihre Anonymität zu gewährleisten. Darüber hinaus wurden die Interviews so bearbeitet, dass alle identifizierenden Informationen weggelassen und mit Synchronsprecher*innen neu eingesprochen wurden1 Diese Maßnahmen sind für visuelle Anthropologieprojekte eher untypisch, da durch Videos die Forschungsteilnehmenden normalerweise sichtbar werden. Sie waren hier jedoch aus ethischen und datenschutzrechtlichen Gründen notwendig, weil die Äußerungen z. T. politisch sensibel waren..
Quelle: Trailer zu „Empathy for Concrete Things“, Gregory Gan, 2023, All rights reserved
Beispiel 4: Anonymisierung mittels Aggregation, Asher & Jahnke (2013)
In dem Artikel „Curating the Ethnographic Moment” (Asher & Jahnke, 2013) geht es um Herausforderungen und Praktiken des Forschungsdatenmanagements in Bezug auf Ethik, das Einholen informierter Einwilligungen und Anonymisierungs- sowie Pseudonymisierungsstrategien. Es wurden Forschende zu ihren Erfahrungen befragt. Ein Soziologe beschreibt folgendes Dilemma:
“I wanted to do life histories with priests [in central Pennsylvania], and part of the problem was . . . we got into a situation where people might tell me things about their personal lives that are sort of not confidential in the IRB sense but that might be upsetting to their congregations—like I talked to one priest who had been married three times, where if the congregation had known about that they would have been very upset. There’s nothing illegal about it; this person’s not shy about telling that, but it could have been damaging.” (2-13-111411).
Dieser Auszug enthält einen Hinweis zum Forschungsort Zentral-Pennsylvania. Eine Leserin des Artikels hinterlässt diesbezüglich folgenden Kommentar auf der Webseite:
„I am finding this article to be extremely useful and interesting. However, I noticed this “I wanted to do life histories with priests [in central Pennsylvania]” and I think you should remove the geographic reference. There can’t be that many priests in central Penn. and marriage certificates are public records. By including this geography in your article, you may yourself be compromising the privacy of the potential respondents”.
Die Autor*innen rechtfertigen sich wie folgt: „Your point is well taken. We chose to replace a specific geographic reference (in this case a town) with the more general and nonspecific “central Pennsylvania” in order to retain contextual information while expanding the population of potential people to a large enough degree to make identification difficult. Since “central Pennsylvania” can be used to refer to almost anywhere between Philadelphia and Pittsburgh, it would take a very committed person to compile a list of priests and cross reference it with marriage records–both very difficult tasks, especially since the person in question could have been married anywhere. However, as an added precaution, we have also omitted information about when the researcher was conducting this work and denomination of the priest the researcher was discussing, which further expands the population that would have to be investigated. We therefore believe the risk of identification is very low, but you are correct in noting that researchers and archivists need to be aware that seemingly innocuous details can result in breeches of confidentiality.“