Anwendungsbeispiele
Folgende Beispiele beschreiben spezifische Kontexte aus ethnografischen Forschungsfeldern und diskutieren die Auswirkungen, die der jeweilige Umgang mit der informierten Einwilligung auf die Forschungspraxis hatte.
Beispiel 1: Informierte Einwilligung im Rahmen langfristiger ethnografischer Feldforschung (Röttger-Rössler, 2023)
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Quelle: Kommentar zum Informed Consent Röttger-Rössler, Birgitt Röttger-Rössler, 2023, lizenziert unter CC BY-NC-ND 4.0
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Ein großer Teil ethnografischer Forschung vollzieht sich im Rahmen langfristiger, stationärer Feldaufenthalte und ist durch eine enge Teilnahme der Forschenden am Alltag der jeweiligen Gruppe geprägt. In diesem „klassischen“ Forschungsformat wird „informed consent“ auf zwei Ebenen relevant: einer formalen und einer informalen Ebene. Zunächst muss in der Regel jede Ethnografin, jeder Ethnograf über eine offizielle, behördliche Forschungsgenehmigung verfügen, um sich überhaupt längerfristig vor Ort aufhalten zu dürfen. Je nach Land gelten hier unterschiedlich komplexe Regelungen. In Indonesien muss zum Beispiel bei der staatlichen Forschungsbehörde eine Forschungserlaubnis eingeholt werden, um überhaupt ein Forschungsvisum für einen längeren Zeitraum zu bekommen. Auf Grundlage des zuvor einzureichenden Forschungsexposés wird bei der Behörde über die Genehmigung entschieden, was mitunter lange dauern und auch abschlägig beurteilt werden kann. So gibt es politisch sensible Themenbereiche, für die es nahezu aussichtlos ist, eine Forschungsgenehmigung zu erhalten.
Die vorliegende Forschungsgenehmigung gilt es dann, den jeweiligen regionalen Behörden und Autoritäten vorzuzeigen, wobei der Genehmigungsweg der behördlichen Hierarchie in absteigender Richtung folgt: am untersten Ende stehen die lokalen Verantwortlichen wie Stadtteil- und Bezirksregenten oder die Vorstände von Dörfern. Diese tragen letztendlich aber die alltägliche Verantwortung für die von obersten Behörden autorisierten Forscher*innen. In der Regel übernehmen es dann diese Amtsträger, die lokale Bevölkerung gemeinsam mit dem oder der jeweiligen Forschenden über Ziele und Inhalt des Vorhabens zu informieren. Ist diese Praxis nun als ‚informed consent‘ zu verstehen? Vor allem in hierarchisch strukturierten Gesellschaften wird die lokale Bevölkerung nicht um ihre Meinung gefragt oder um Zustimmung gebeten, sondern lediglich informiert.
So verhielt es sich zum Beispiel auch im Fall unserer Forschungen in Südsulawesi, Indonesien. Der kepala kampung (wörtl.: das Haupt des Dorfes) versammelte die Bewohner des Ortes, in welchem mein Mann und ich ein Jahr leben und forschen wollten und klärte sie auf, dass wir nun da seien mit einer Genehmigung von höchster Stelle aus Jakarta, um über das Dorf ein Buch zu schreiben und alle sich bemühen sollten, dass wir nur Gutes schreiben würden. Eine sehr ambivalente Situation. Wir haben versucht, unsere konkreten Anliegen noch etwas genauer zu erläutern, gleichzeitig aber gemerkt, dass unsere recht akademische Darlegung von Forschungsinteressen völlig deplatziert war und niemand damit etwas anzufangen wusste. Das Aushändigen von vorbereiteten Formularen an die Einzelnen mit der Bitte um schriftliche Zustimmung wäre komplett unmöglich gewesen, nicht nur aufgrund des Analphabetismus vieler, sondern auch aufgrund eines tiefen Misstrauens gegenüber Formularen.
Haben wir nun ohne ‚informed consent‘ gearbeitet? Nein, denn im Folgenden wurden wir natürlich von allen Personen immer wieder ausführlich befragt, wer wir seien, was wir wollen und wir haben immer und immer wieder unsere Absichten erläutert und dabei auch erlernt, dies in einer verständlichen nicht-akademischen Form zu tun.
In dem die Dorfbevölkerung uns dann aufgenommen und nach und nach immer mehr an ihrem Alltag hat teilhaben lassen, hat sie ihre Zustimmung ausgedrückt oder besser gesagt: praktiziert. Die Menschen vor Ort hatten die ganze Zeit die Hoheit darüber, was sie mit uns teilen wollten und was nicht. Ich habe erst bei späteren Aufenthalten gemerkt, wie viel anfangs noch vor uns verschlossen wurde. Dies ist m. E. ein ganz wichtiger Punkt: wenn die Personen über die und mit denen man arbeiten möchte, mit dem Forschungsanliegen sowie der Persönlichkeit und dem Auftreten des Forschenden nicht einverstanden sind, werden sie die Forschung zu boykottieren wissen. Im Forschungsalltag wird die lokale Bevölkerung zudem immer wieder durch das Verhalten der Ethnograf*innen an deren Anliegen erinnert – sei es durch deren ständige Notizen in mitgeführten Kladden, die vielen Fragen zu Zusammenhängen, die allen anderen klar sind oder ihr unwissendes und oft ungeschicktes Verhalten in zahlreichen Situationen.
Auf eine Kurzformel gebracht: Im Kontext langfristiger, stationärer Feldforschung bedeutet ‚informed consent‘ kein unterschriebenes Formular, sondern vollzieht sich in alltäglicher Praxis. Damit entzieht sich aber auch dieser ethnografische ‚informed consent‘ formalisierten Dokumentationsmustern.
Dieses Beispiel zeigt zum einen, dass sich „informed consent“ als eine Forschungspraxis verstehen lässt, die sich in den alltäglichen Interaktionen zwischen Forscher*in und Forschungsteilnehmenden immer wieder vollzieht. Aus ethischer Sicht ist diese – häufig praktizierte – Form der informierten Einwilligung nicht zu beanstanden, aber sie lässt sich nicht in formalisierter Form dokumentieren und damit nachweisen. Zum anderen verdeutlicht dieses Beispiel, dass formale (schriftliche oder aufgezeichnete mündliche) Einwilligungen in etlichen Kontexten vollkommen ungebräuchlich und damit auch äußerst befremdlich für die lokale Bevölkerung sein können, was zu Misstrauen führen und die Forschung deutlich erschweren kann.
Beispiel 2: Grenzen und Herausforderungen informierter Einwilligung (Dilger, 2005)
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Quelle: Kommentar zum Informed Consent Dilger, Camilla Heldt, 2023, lizenziert unter CC BY-NC-ND 4.0
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Zwischen 1995 und 2006 forschte Hansjörg Dilger (Universitätsprofessor für Sozial- und Kulturanthropologie, Freie Universität Berlin) zu HIV/AIDS, Moral und sozialen Beziehungen im ländlichen und urbanen Tansania. Der Forschungsfokus lag dabei auf der Lebenssituation von Infizierten und Erkrankten und der Organisation von Unterstützung und Hilfe aus dem jeweiligen familiären, sozialen und/oder religiösem Umfeld. Das vorliegende Forschungsbeispiel basiert auf einer ethnografischen Langzeitforschung in Tansania, die insgesamt 13 Monate andauerte (Dilger, 2005, pp. 24).
Auffallend war bei der Beantragung einer Förderung für dieses Forschungsvorhaben, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihrer Begutachtung keinen ethischen Aspekt einfließen ließ. Erst bei der Beantragung einer Forschungsgenehmigung im Gastland Tansania wurde Dilger aufgefordert, eine Ethikgenehmigung aufzusetzen. Die Beantragung wurde dabei an eine lokale medizinische Institution (NIMR) weitergeleitet. Somit wurde das Thema und die Fragestellung der Forschung seitens der lokalen Behörden als Public Health-Forschung mit gesundheitsorientiertem Anspruch kategorisiert und es galten die ethischen Richtlinien für gesundheitswissenschaftliche Forschung. Dilger, der seine Fragestellungen als klassisch sozial-anthropologisch empfand, war davon zunächst überrascht.
Die bürokratischen Maßnahmen in Bezug auf ethische Richtlinien kamen in der konkreten Forschungspraxis besonders in Bezug auf das Einholen einer informierten Einwilligung allerdings an ihre Grenzen, was der Forscher selbst beschreibt: „In all diesen Situationen stellte ich rasch fest, dass es ethisch nicht vertretbar gewesen wäre, meine Gesprächspartner*innen direkt auf HIV/AIDS anzusprechen – oder aber ein Formular zum informed consent zu präsentieren, das einen solchen Bezug eindeutig herstellte“ (Dilger, 2015).
Denn insbesondere im ländlichen Tansania sei eine Erkrankung mit AIDS oder HIV gesellschaftlich und kulturell stark stigmatisiert und meist mit Hexerei, (sexual-)moralischen, sozialen oder rituellen Regelverstößen seitens erkrankter Personen assoziiert (Dilger, 2009, pp. 109). Hier gelte es den ethnozentrischen Blick biomedizinischer Vorstellungen des Phänomens „Krankheit“ zu überwinden und „alternative Denkweisen“ (Dilger, 2015) über „Hexerei, Gerüchte, Viren und Geister“ (ebd.) in Bezug auf die Ursache von Erkrankungen zu berücksichtigen und einzuflechten. Die konkrete Nachfrage über und zu HIV-Infektionen oder AIDS-Erkrankungen hätte in diesem Zusammenhang als ethisch verwerflicher Vorwurf verstanden werden können, was laut Dilger nicht vertretbar gewesen wäre: „Im ländlichen Raum wählte ich daher den Einstieg über die Frage nach „schweren“ und „chronischen“ Krankheiten und danach, wie individuelle Personen und familiäre Netzwerke mit solchen Herausforderungen umgingen“ (Dilger, 2015), das „ermöglichte es meinen InterviewpartnerInnen und mir, in bedeutungsvoller – und durch sie selbst bestimmte – Weise über die Kernfragen des Forschungsprojekts zu sprechen“ (ebd.).
Dieses Beispiel zeigt, dass das Einholen einer informierten Einwilligung ethisch umstritten und nicht immer möglich oder angemessen ist. Spezifische Fragen der Forschungsethik stellen sich in jedem Forschungsvorhaben individuell, wobei bedacht werden muss, inwiefern eine Forschung auch Schaden anrichten kann. Der (z. B. psychische, moralische oder körperliche) Schutz und die Integrität der Forschungsteilnehmenden muss immer gewährleistet werden. Wie in diesem Beispiel verdeutlicht, äußern sich diese Fragen insbesondere im Umgang mit tabuisierten Themen wie Sexualität, Tod oder Krankheit. Dabei können nicht nur die Unterzeichnung eines Formulars, sondern auch die Nennung des Themas oder Projekttitels, ein Risiko darstellen und/oder die Vertrauensbildung und den Feldzugang erschweren oder hemmen, was Dilger retrospektivisch reflektiert: „Hätten meine Forschungsteilnehmenden immer in das Gespräch mit mir eingewilligt, wenn ich sie unmittelbar über den Bezug meiner Studie zu HIV/AIDS informiert hätte (selbst wenn sie sich später von selbst für dieses Thema öffneten)?“ (Dilger, 2015).
So wird über die Notwendigkeit einer informierten Einwilligung, sowie über die ethische Standardisierung, Institutionalisierung und damit einhergehende Verbindlichkeiten von Ethikkommissionen nicht nur in der Ethnologie diskutiert. Übergreifende Ethikstandards bei ethnografischen Forschungen sind dabei in Deutschland (noch) nicht die Regel, Forschende in den USA beispielsweise sind aber vor dem Hintergrund der Institutional Review Boards (IRB) auf ein positives Votum angewiesen. Dies ist insofern kritisch zu betrachten, als dass „insbesondere politisch und sozial sensible Themen kaum einmal die Chance hätten, eine Ethikgenehmigung für ethnografisch flexible Forschungsansätze zu erhalten, wenn ethische Kriterien rigide angewendet werden“ (Dilger, 2015). So können Ethikstandards sowohl den Forschungsprozess einengen und hemmen, als auch Forscher*innen vor viele Hürden stellen. Dennoch sollten Ethikrichtlinien bei Forschungsaufenthalten im Ausland und bei interdisziplinären Projekten entsprechend gekannt und berücksichtigt werden.
Schließlich gilt, wie Dilger postuliert, „dass die Ethnologie – auch im Dialog mit anderen Disziplinen – proaktive Diskussionen darüber führt, wie unser Fach die mit Sicherheit anstehende Institutionalisierung ethischer Maßstäbe und Wertvorstellungen mitgestalten kann und gleichzeitig nicht hinter die theoretisch-konzeptuellen Debatten der letzten Jahrzehnte zurückfällt.“ (Dilger, 2015).
Beispiel 3: Vorteile schriftlicher informierter Einwilligung (Inhorn, 2004)
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Quelle: Kommentar zum Informed Consent Inhorn, Camilla Heldt, 2023, lizenziert unter CC BY-NC-ND 4.0
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Am Beispiel von Marcia Inhorns 15-jähriger Forschung zu In-Vitro-Fertilisation (IVF, also künstliche Befruchtung) in privaten Krankenhäusern in Ägypten und Libanon Ende der 80er bis Anfang der 2000er Jahre wird deutlich, inwiefern sich das Einholen einer schriftlichen informierten Einwilligung positiv auf Forschungsprozesse und -beziehungen auswirken kann.
Während Inhorns Forschung gestaltete sich der medizinanthropologische Feldzugang als schwierig: Zum einen waren Krankenhäuser in beiden Ländern Ende der 1980er Jahre von Privatisierungen und Patronage-Strukturen betroffen, was ein ethnografisches Forschungsvorhaben ohne den Kontakt zu einem medizinischen „Gate Keeper“ schier unmöglich machte. Zum anderen handelte es sich bei dem Thema der künstlichen Befruchtung und der damit oftmals einhergehenden Unfruchtbarkeit (sowohl des Mannes als auch der Frau) um kulturell stigmatisierte und sensible Angelegenheiten, die einer strengen Geheimhaltung unterliegen. So war es insbesondere für Anthropolog*innen – auch in Bezug zu der politisch konfliktbehafteten Situation der Region des mittleren Ostens – schwierig, einen Zugang zum Feld zu erlangen.
Dennoch gelang es Inhorn durch den Kontakt zu medizinischen „Gate Keepern“, die ihre Patientinnen über das Forschungsthema informierten und die Forscherin weiterleiteten, Zugang zu verschiedenen Privatkrankenhäusern im Libanon und Ägypten zu erhalten, wofür sie unter anderem die standardisierte Ethikgenehmigung des IRB (Institutional Review Board) einholte. Diese kam ihr angesichts ihres besonders sensiblen Themas der künstlichen Befruchtung zu Gute, denn gerade die schriftliche Einwilligungserklärung (mit Informationen über die Ziele der Forschung und der Aufklärung über die Freiwilligkeit der Teilnahme etc.) und die formelle Zustimmung durch Unterschrift begünstigten ein Vertrauen seitens der Forschungsteilnehmenden. Diese konnten sich durch die Formalisierung sicher sein, dass die Interviews ausschließlich unter strenger Wahrung von Vertraulichkeit geführt werden:
„In my view, the informed consent process was crucial in reassuring women that what they told me would be held in the strictest confidence, and that their names would never be used in any published report … I would argue that the process of written informed consent may actually ´break the ice´ and lead to greater rapport when the topic being discussed is private, sensitive, or illegitimate/illega. (….) Using written informed consent forms to guarantee secrecy has worked to my advantage (….) Indeed, several women in my study commented after our interviews were finished, ´Now I´ve told you all my secrets“ (…) as long as I assure women of that privacy through the written informed consent process, they were more than willing to share their stories of suffering with me (Inhorn, 2004, p. 2099).
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Einholen einer (schriftlichen) informierten Einwilligung in einigen Fällen fruchtbar und relevant für den ethnografischen Forschungsprozess ist. Insbesondere in Themenfeldern, die von Stigmatisierungen betroffen sind, wird den Teilnehmenden der vertrauliche Umgang mit den sensiblen Forschungsdaten versichert, was das Vertrauen gegenüber forschenden Personen erhöhen und einen ersten „Eisbrecher“ darstellen kann. So muss die schriftliche Form der informierten Einwilligung nicht in jedem Falle abschreckend oder einschüchternd wirken und ist gerade im medizinanthropologischen Bereich institutioneller Einrichtungen wie Krankenhäusern – in denen ohnehin viel bürokratisierte Arbeit stattfindet – oft unausweichlich.
Ersichtlich wird, dass sich die forschende Person stetig auf’s Neue mit den jeweiligen Begebenheiten und der Struktur des Forschungsfeldes, sowie Aspekten der Sicherheit der Teilnehmenden auseinandersetzen sollte, damit letztere sich sicher und komfortabel genug fühlen, Erfahrungen, Sichtweisen und Geschichten zu teilen. Die informierte schriftliche Einwilligung kann dabei ein unterstützendes Element sein.